Annkatrin Babbe: Wiener Schule. Geigenausbildung bei Josef Hellmesberger –Wien: Hollitzer, 2024. – 403 S.: s/w Abb. (Musikkontext 19)
ISBN 978-3-99094-143-0 : € 50,00 (geb.; auch als eBook im open access)
Im 19. Jahrhundert zählt Wien zu den Musikmetropolen Europas, man spricht gar von der „Musikstadt Wien“. Die klassisch-romantische musikalische Tradition wird im aufstrebenden Bürgertum als identitätsstiftend gesehen, und Musik bildet somit das Image der Stadt. Damit verbunden sind die Wiener Geigenschule und der Wiener Klang, eine spezielle Wiener Ästhetik. In dieser Zeit ist die Wiener Schule fest mit dem Namen Josef Hellmesberger verbunden. Sein Einfluss reichte bis in die Hofoper und zu den Wiener Philharmonikern.
Prägte Josef Hellmesberger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Violinschule Wiens, verlagert sich der Topos zum Ende des Jahrhunderts zunehmend auf den Begriff „Wiener Schule“ und der Geiger wird nur als ein Repräsentant dieser erwähnt.
Die Bedeutung aber gerade des Geigers, durch den die Bildung der Wiener Geigenschule maßgeblich geprägt wurde, verlor sich, denn es gab bisher nur wenige punktuelle Schriften über das Wirken und den Einfluss Josef Hellmesbergers auf die Geigenausbildung und seine Schüler. Somit trägt die Dissertation von Annkatrin Babbe (von 2014 bis 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sophie Drinker Institut Bremen) wesentlich zur Aufarbeitung des Lebens des Geigers und der Musikgeschichtsschreibung bei.
Die Autorin beschreibt als Schwerpunkt ihrer Arbeit anschaulich das Leben des Geigers Joseph Hellmesberger und der Dynastie Hellmesberger im Kontext des Wiener Musiklebens, den Einfluss dieser auf das Musikleben, die Orchesterlandschaft, die Musikinstitutionen und die spezielle Geigenausbildung.
Das Buch ist in mehrere Teilbereiche gegliedert. Der erste Teil behandelt das Leben und Wirken Josef Hellmesbergers des Älteren (1828-1893) und die Dynastie der Hellmesbergers. Speziell aufgrund seiner Quartettabende machte er das Publikum mit einem breiten Repertoire – auch unbekannter und zeitgenössischer Werke – vertraut und trug so zur Erziehung des Publikums bei. Verstärkt war sein Einfluss, da er lange Jahre artistischer Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde war. Als Geiger und Leiter des Quartetts unterrichtete er lange Jahre am Konservatorium, dessen Leitung er auch viele Jahre innehatte. Das gab ihm die Möglichkeit, die spezifische Wiener Geigenschule kontinuierlich aufzubauen.
Ein ausführliches Porträt Josef Hellmesbergers des Jüngeren (1855-1907) – ebenfalls ein virtuoser Geiger, Konservatoriumslehrer, Orchestermusiker und Dirigent – beschreibt u.a. die Stringenz der Hellmesberger-Dynastie. In einem weiteren Teilbereich folgen Biografien der Schülerinnen und Schüler Josef Hellmesbergers d. Ä. Unter Genderaspekten und sozialen Kontexten betrachtet Babbe, welche Laufbahnen für diese möglich waren, welche Karrieren sie erreichten und welchen Einfluss der Geiger mit seinem Netzwerk hatte, die Entwicklung seiner Schülerinnen und Schüler zu fördern. In diesem Zusammenhang werden unter raumsoziologischen Aspekten die Karrieren der Geigenschüler*innen historisch und biografisch betrachtet.
Speziell die Aufzeichnung von Problemen für Geigerinnen, die lange keine Chance besaßen, in Berufsorchestern tätig zu sein, geben Aufschluss über die gesellschaftliche Diskriminierung von Musikerinnen und deren Kampf um Anerkennung als professionelle Musikerinnen – von ihrem Weg von der Hochschule zu professionellem Auftreten in öffentlichen Räumen bis zur Gründung von Frauenorchestern und deren Problemen.
Das Buch fungiert sowohl als Nachschlagewerk für Schüler*innen am Konservatorium als auch für Musikerinnen in den damaligen Frauenorchestern.
Ein weiterer Diskurs behandelt die Definition der Schulenbildung und die Geschichte der akademischen Musikausbildung Wiens im 19. Jahrhundert. Dabei werden auch Kriterien für die Aufnahme am Konservatorium bezüglich des finanziellen, geografischen Hintergrunds, bezüglich der Herkunft und des Geschlechts tabellarisch aufgelistet. Der Einblick in das traditionelle Orchesterlebens Wiens und die Geschichte der Wiener Philharmoniker zeigt den Wandel der sozialen Stellung von Orchestermusikern bis ins 21. Jahrhundert.
Wünschenswert wäre im Vorwort ein Stammbaum der Familie Hellmesberger mit Angaben der Geburtsdaten, um die Generationen von Anfang an einfacher verorten zu können.
Das Buch ist interessant zu lesen und gibt neben dem geschichtlichen Überblick über die Musikstadt Wien und die Wiener Geigenausbildung einen Eindruck über das Image der Stadt als Musikstadt, das heute auch unter touristischen Aspekten gesehen wird. Noch bis 2010 warben die Philharmoniker in der Tradition ihrer Konzerte mit dem Motto „Wiener Streicherklang“. Was diesen auszeichnet, bleibt offen und Grundlage für weitere Diskussionen.
Jutta Heise
Hannover, 07.04.2025