Oliver Vogel: Erik Satie. Der skeptische Klassiker – Berlin/Kassel: Metzler/Bärenreiter, 2024. ‑ 712 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-662-66594-7/978-3-7618-2526-6 : 59,95 € (geb.; auch als eBook)
Diese Monografie über Satie ist ein perfekter wissenschaftlicher Roman. Diese Bezeichnung klingt ebenso paradox wie der Untertitel des Buches, der eine versteckte Andeutung dafür sein könnte, dass Satie in Wirklichkeit der Antiklassiker par excellence war. Der Autor hat mit seiner luziden Argumentation, seinen konzisen Begründungen nicht nur der kompositorischen Sachverhalte, sondern auch der menschlichen Lebensumstände dieses Künstlers, hat mit seinen aufgeworfenen Fragen und seinen entwickelten Thesen ein schwer einholbares oder gar überbietbares Opus geschaffen, das der Aufnahme Saties in Deutschland und seinem Verständnis großen Nutzen bringen müsste.
Übertrieben scheint allerdings die Covertext-Mitteilung, dies sei die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung Saties seit Jahrzehnten. Als letzte ist wahrscheinlich jene von Grete Wehmeyer aus dem Jahr 1974 gemeint, der die Autorin 1992 aber noch einen Band mit Bildern und Dokumenten sowie 1998 (2. Auflage 2005) eine rowohlt monographie folgen ließ. Die interessante Studie von Tomas Bächli von 2016 wird hier ganz übergangen und auch in der inneren Bibliographie nicht vermerkt, ebenso wie das köstliche Buch von Wladimir Jankélévitch Satie und der Morgen, frz. 1988, auf Deutsch 2015). Verwunderlich ist auch, dass Vogel so sehr und fast ausschließlich in den französischen Originalen Saties und seiner Zeitgenossen sich bewegt, dass er überwiegend aus ihnen zitiert und selbst übersetzt, auch da, wo es, wie im Fall der Ecrits de Satie (Paris 1977), eine von derselben Herausgeberin Ornella Volta veranstaltete parallele deutsche Ausgabe seiner Schriften gibt (Hofheim 1988, 3. Auflage 1997). Auf sie den Leser zu verweisen, macht sich Vogel nur an äußerst wenigen der zahlreichen Stellen, an denen er Satie zitiert, die Mühe. Man darf annehmen, dass der Autor vielleicht ein Absolvent des Französischen Gymnasiums in Berlin war und sich seither in der französischen Sprache und Kultur wie ein Fisch im Wasser tummelt, zudem längere Zeit für Recherchen in Pariser Bibliotheken und Archiven zugebracht hat, was der Fülle und Dichte seiner Erzählung und ihrer Untermauerung durch zitierte Quellen und Dokumente sehr zugute kommt.
Vogels Art, vom Leben und der Kunst Saties beobachtend und interpretierend zu erzählen und ihr inneres Wesen, die spezielle, nur Satie zugehörige Wahrheit, ihre eigene, zu den Konventionen quer stehende Logik freizulegen, unterscheidet sich allerdings stark von allen bisherigen Versuchen, das Phänomen Satie zu fassen. Seine Methode, sich und seinen Lesern den Unnahbaren nahe zu bringen, ohne in eine trügerische Vertrautheit mit ihm zu geraten, ist dadurch bestimmt, Satie als eine sich selbst konzipierende Kunstfigur zu erkunden. Satie hatte nämlich neben einer durchgängigen fixen Idee (der des sokratischen Fragens, des Gewissheiten Unterlaufens) noch etliche weitere Modelle durchgespielt und wie Schlangenhäute wieder abgeworfen, als ihre Grenzen erreicht waren.
Saties erste Konzeption nach dem Abbruch seines Musikstudiums am Pariser Conservatoire, welcher sich dann später nur als eine Unterbrechung herausstellen wird, weil er es an der Schola cantorum fortsetzen und beenden wird, war eine Reaktion auf den erfahrenen Albdruck von Traditionen, deren Last sein quirliges Gehirn nicht zu tragen bereit war. Es war die Konzeption des besitzlosen Adeligen, mit der er sich Jahrzehnte lang nicht gerade erfolgreich, aber überlebensfähig halten konnte, zunächst in der Kabarett-Bohème von Montmartre, später auf dem Montparnasse einnistete und noch später vereinzelt ‑ unterstützt von Kampagnen seiner Freunde und Verehrer – sogar im Pariser Zentrum reüssieren konnte – natürlich von Skandalen beim bürgerlichen Publikum umwittert. Satie Lebenskonzeption erinnert doch sehr an Hugo Balls Figur des Varieté-Direktors Flametti, der ein Dandytum der Armut pflegt. Diese Konzeption hat ihre von Vogel geschilderte äußere Physiognomie und ihre innere, vornehm-skurrile Form, die sich eben auch simultan in der Art zu komponieren niederschlägt. Vogel schildert sie als von Verzicht geprägt: Verzicht auf üppige Akkorde, auf Modulationen, mitunter sogar auf Taktstriche, um harmonisch und rhythmisch freie Melodielinien zu gewinnen, um seine Gymnopädien und Gnossiennes als unterhaltende und halbsakrale Klavierstücke, später ganze Ballettmusiken zu erfinden. Der Weg in die variablen Klangwelten eines nicht finsteren, sondern von mehr als nur zwei Tongeschlechtern geprägten Mittelalters war da nur konsequent.
Die in Vogels Darstellung unterschwellig, fast unausgesprochen mitgeschleifte These, im Mittelalter seien nicht nur die Kirchengesänge in einem der tongeschlechtlichen Modi (in Deutschland auch „Kirchentonarten“ genannt) gesungen worden, sondern auch weltliche Gesänge und Instrumentalmusik, bleibe dahingestellt, dass aber Satie derjenige war, der aus der Krise der Dur-/Moll-Harmonik heraus die mittelalterlichen Modi als einen neuen Kosmos wiederentdeckte, weltlich-frivole skeptisch-melancholische Klaviermusik in ihren Sphären und Charakteren komponierte und damit auf seine Art die Krise an der Schwelle zur Moderne überwand, damit selber modern werden konnte, ist wohl wahr.
Vogels Darstellung des Satie-Kosmos ist nicht nur eine Zusammenfassung aller bisher bekannten Tatsachen, sondern selbst ein Quellenwerk geworden für die Aufdeckung von Zusammenhängen, die so bisher nicht präsent waren, und sie überbietet damit auch die existente französische Literatur, sollte also dringend ins Französische übersetzt werden, sofern nicht ein vergleichbares Buch in Frankreich erscheinen sollte. Darüber hinaus bietet sie eine luzide durchdachte und mit leichter Geste formulierte Interpretation der sozialen Milieus und der Saties Kunst prägenden Lebensumstände. Denn autonom im Sinne von funktionslos in einem asozialen Raum war Saties Musik trotz ihres Eigensinns nie. Selbst davor, dass junge Leute sich als seine Schüler betrachteten und eine nach ihm oder nach seinem Rückzugsort Arcueil benannte Schule gründen wollten, konnte er nichts anderes ausrichten, als sich abermals zu häuten und sie vor den Kopf zu stoßen.
Vogel hebt Saties Musik über ihre Verwurzelung und Verzweigungen in der französischen Musikgeschichte auf eine universelle Ebene. Saties Musik in Verbindung mit Tanz und Ballett müsste eigentlich in unserer auf dieses Genre abgefahrenen Kunstszene ein aktuelles Echo finden, und so kann man nur hoffen, dass zu seinem 100. Todestag im Jahr 2025 seine Ballettschöpfungen Parade, Mercure und Relâche auch auf deutschen Bühnen wieder zu finden sein werden.
Vogel gibt keine diskografischen Hinweise oder Empfehlungen. Auch auf die Gefahr hin, dass diese Einspielungen schon längst vergriffen sind: die Klaviermusik unbedingt von Aldo Ciccolini, Relâche und Socrate (letzteres sind musikalisierte Stücke aus Dialogen von Platon, in denen Sokrates als Saties ideale Gestalt des nichtswissenden Alleswissers erscheint) mit dem Wiener Ensemble „die reihe“ unter Friedrich Cerha. Und selbstverständlich Teodoro Anzelottis Adaptationen für das Akkordeon.
Nach 640 Seiten reflektierter Erzählung und analytischen Beschreibungen finden sich in dem Buch interessante, instruktive Anhänge: Die komplexe Quellenlage zur Messe des pauvres wird tabellarisch dargestellt, ebenso die Überlieferung der Schola-Manuskripte. Dann gibt es mehrere sogenannte Zeitleisten, tabellarische Übersichten, zunächst über Saties Leben von 1880 bis 1925, dann der Perioden Lehrjahre (1878‑1887), Montmarte (1888‑1898), Ruhmlose Zwischenzeit (1898‑1912), Montparnasse (1911‑1918), Letzte Jahre (1919‑1925). Für die letzten beiden Perioden ist noch eine weitere Tabelle über die verwickelte Geschichte seiner Publikationen beigefügt. Zu den zahlreichen Notenbeispielen im Fließtext zusätzlich erscheinen hier noch musikalische Beigaben, in denen man die melodischen Konturen der Basslinie zum Sprechgesang des Gedichts Les Pantins dansent sowie eine deutsche Singversion aller drei Teile des Socrate verfolgen kann. Es folgen eine Auswahl-Bibliografie und ein Verzeichnis mit Nachweisen der zahlreichen Abbildungen, mit denen das Buch luxuriös ausgestattet ist. Unter den angehängten Indices findet man ein alphabetisches, französisch/deutsch gemischtes Werkverzeichnis, ein Sachverzeichnis, das nochmals dokumentiert, wie sachbezogen, auf Örtlichkeiten und musikalische Begriffe hin die Darstellung insgesamt orientiert ist (fast hätte man sich das in Form eines Glossars mit Worterklärungen gewünscht), und ein Namensverzeichnis.
An sich sollte in jedem Buch über Satie ein Scherz nach Saties Geschmack versteckt sein; der Rezensent konnte aber hier keinen entdecken, jedenfalls keinen so offensichtlichen und schönen wie in einer (bei Vogel keine Erwähnung findenden) Ausgabe von Satie-Schriften im Zürcher Atlantis Musikverlag (1989), wo unter den „Büchern über Erik Satie“ das Buch eines gewissen Heinz Erhard [sic!] aufgeführt ist: „Satierliches, Goldmann TB 1979“, das in Wirklichkeit Tierliches und Satierliches hieß und mit Satie rein gar nichts zu tun hatte.
Peter Sühring
Bornheim, 30.11.2024/21.05.2025
Diese Rezension erschien zuerst in Forum Musikkbibliothek 2025/1; sie wurde für diese Veröffentlichung durchgesehen und leicht überarbeitet.