Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation / Hrsg. v. Rebecca Grotjahn

Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation. Vorträge der Ringvorlesung am musikwissenschaftlichen Seminar Detmold-Paderborn / Hrsg. von Rebecca Grotjahn. – München: Allitera, 2009. – 196 S. Ill., Notenbsp. (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik ; 1)
ISBN 978-3-86906-026-2 : € 22,00 (kt.)

Der Begriff der Leitkultur holt uns im vorliegenden Buch, das die neue Verlagsreihe eröffnet, wieder ein. Der bewußt deutschtümelnde Titel läßt den Untersuchungsgegenstand bereits anklingen: Es ist die „germanozentrierte“ Musikgeschichtsschreibung auf der einen sowie die auf den schöpferisch tätigen Mann verengte Sichtweise auf der anderen Seite, die das Bild der deutschen Kulturnation nachhaltig geprägt haben. Die Vorträge aus der Vorlesungsreihe in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Symposion befassen sich exemplarisch mit dieser Thematik. Titel gebend war der Beginn der 2. Strophe der deutschen Nationalhymne, den die Herausgeberin und Initiatorin des Projekts auch als Überschrift für ihren Beitrag gewählt hat. Rebecca Grotjahn hat eine Professur für Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender-Forschung in Detmold/Paderborn. Ihre und andere Untersuchungen legen aus unterschiedlichen Blickwinkeln den Fokus auf die für die Konstruktion der deutschen Kulturnation maßgebliche, vermeintliche Überlegenheit männlicher deutscher Komponisten. Diejenigen, die Musikgeschichte machten, als auch die, die sie aufschrieben, waren Männer, und diese haben über Jahrhunderte hinweg auf unzulässige Weise angebliche Geschlechtsspezifika mit einem Unvermögen an Kreativität gleichgesetzt und so unsere Wahrnehmung manipuliert. Es ist das Verdienst der Gender-Forschung, tradierte Auffassungen zu reformieren, die Rolle von Frauen kompositions-, repertoire- und interpretationsgeschichtlich zu würdigen, fehlerhafte Überlieferungen zu korrigieren und den Blick auf Neues zu lenken. Nicht immer nachvollziehbar für mich persönlich ist die Sichtweise, mit der die – unbestreitbar notwendige – Rehabilitation bestimmter Frauengestalten der Musikgeschichte eben diese in ihrer Bedeutung zu überhöhen sucht. Der Prozess der Befreiung von Frauen aus gesellschaftlichen Zwängen setzte spät ein, hält immer noch an und zeigt erst heute so recht, zu welchen (schöpferischen) Großtaten (komponierende) Frauen in der Lage sind. Der andere Aspekt, dem hier große Bedeutung zukommt, ist die Konstituierung eines deutschen Kulturbegriffes in einem Diskursüber „die deutsche“ Musik. Anhand verschiedener Themen wird die Konkretisierung dieses Profils schlüssig erklärt. Es sind die Meisterwerke Bachs oder Beethovens, die als Beweis für die Größe der deutschen Kultur herangezogen werden. Kulturelle Konnotationen in Begriffen wie Wald und Jagd (Weber, Lortzing) oder Freiheit und Krieg (Lortzing, Wagner) haben rezeptionsgeschichtliche Verzerrungen erzeugt. Es ist das im 19. Jahrhundert erstarkende nationale Selbstbewußtsein im Zusammenhang mit der Reichsbildung, das z. B. die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im Bereich der Orgelkultur nachhaltig geprägt hat. Ein anderer Beitrag setzt sich mit der Herausbildung eines nationalen musikalischen Selbstverständnisses in den Niederlanden auseinander, das zum Paradox einer niederländischen Nationalmusik nach deutschem Muster führte. Soweit mir bekannt ist, sind die Zusammenhänge zwischen Nationalmusik und Gender bisher monographisch nicht untersucht worden. Der vorliegende Titel ist Auftakt und Meilenstein zugleich – vielversprechend und unumgänglich.

Claudia Niebel
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 268f.

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