Wolfram Knauer: „Play yourself, man!“. Die Geschichte des Jazz in Deutschland [Rüdiger Albrecht]

Wolfram Knauer: „Play yourself, man!“. Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Durchgesehene Ausgabe. – Ditzingen: Reclam, 2021. – 528 S.: 60 s/w-Fotos und - Abb.
ISBN 978-3-15-011360-8 : € 20,00 (brosch.)

„Play yourself, man!“: Mit dieser Aufforderung, sich vom allmächtigen amerikanischen Vorbild zu emanzipieren, die Wolfram Knauer seinem Buch über die Geschichte des Jazz in Deutschland als Titel mitgegeben hat, ermutigten amerikanische Musiker ihre europäischen Kollegen, die eigene Stimme, den eigenen Ton zu finden. Denn die ersten Jahrzehnte dieser Geschichte bewegten sich zwischen Missverständnissen und zaghaften Adaptionen dessen, was man für Jazz hielt, hin zu immer perfekteren Kopien der amerikanischen Vorbilder. Von einem eigenen, unverwechselbaren Ton konnte erst Mitte der 1960er Jahre die Rede sein, Musiker wie Albert Mangelsdorff, Rolf Kühn oder Gunter Hampel wurden nun auch international wahrgenommen. Heute ist die Jazzszene in einzelnen Aspekten, nicht nur im deutschsprachigen Raum, engmaschig verflochten mit Neuer Musik, Rockmusik oder sogenannter Weltmusik, so dass Gattungs- und Stilzuordnungen immer mehr zu verschwimmen scheinen. Auch die von Puristen regelmäßig eingeforderte Rückbesinnung auf die Essenz des Jazz, den Swing, verkommt zu einer durch die aktuellen Tendenzen hoffnungslos verlorenen Liebesmüh.

Wolfram Knauer, Direktor des Jazzinstituts Darmstadt seit dessen Gründung 1990, ist ein ausgewiesener Kenner nicht nur der deutschen Jazzgeschichte, seine Arbeiten leben von jahrzehntelangen Recherchen und intensiver Hörerfahrung. Das flüssig geschriebene, bereits 2019 in erster Auflage erschienene Buch ist neben kleineren Einzelstudien und der 1966 erschienenen Arbeit Jazz in Deutschland von Horst H. Lange die einzige größere Publikation zum Thema. Knauer legt seine Musikgeschichte in drei Erzählsträngen an: den chronologisch strukturierten Ereignissen, Fakten und Zusammenhängen, dann den stilbildenden Persönlichkeiten in Form von Musikerbiografien und drittens einer persönlichen Hör-Geschichte, die sich aus Analysen von Schallplatteneinspielungen und Konzerterlebnissen speist. Die Auswahl der Musikbeispiele ist naturgemäß subjektiv, lässt aber insbesondere die Zeit bis in die späten 1940er bzw. frühen 1950er Jahre lebendig werden, einer Zeit, die dem Jazzkenner, nicht aber dem Jazzfan klingend präsent sein dürfte. Lieblingsschallplatten des Autors, von Gunter Hampels LP Heartplants aus dem Jahr 1963 bis hin zu Produktionen aus jüngster Zeit, werden ausführlich beschrieben. Gerade hier zeigt sich das Geschick des Autors, wesentliche Aspekte von Komposition, Improvisation und Interpretation zur Sprache zu bringen und kontextuell einzuordnen. All das macht Lust und regt an, die Musikbeispiele nachzuhören.

Gibt es aus den ersten Jahren des deutschen Jazz, die etwa mit dem Ende des ersten Weltkriegs zusammenfallen, nur wenige Tondokumente, so ändert sich dies in den 1920er Jahren, der ersten Blütezeit des Jazz in Deutschland. Die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Weimarer Republik ab 1925 gingen als die „Goldenen Zwanziger“ in die Geschichte ein. Besonders in Berlin entwickelte sich ein reiches Kulturleben und ein Lebensgefühl, das der Jazz widerzuspiegeln vermochte wie keine andere Zeitkunst. Kaum zehn Jahre währte diese Hochphase, doch den Machthabern des Dritten Reichs missfielen alle kulturellen Erscheinungen, die sich nicht der offiziellen Doktrin unterordneten. Die zunehmenden Restriktionen führten dazu, dass der Jazz von der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen wurde, und wenn, dann in verwässerter Form – zugleich lebte der Jazz im Verborgenen weiter, bis kurz vor dem Ende der Schreckensherrschaft. Auch wenn die Historiker den Begriff einer Stunde Null für die allerersten Nachkriegsjahre heute zumeist als unzureichend oder gar verfälschend ablehnen, ist Knauers Sicht auf einen Neuanfang zumindest im Falle des Jazz durchaus stichhaltig – problematisch nur insoweit, als der Jazz, wie Knauer schreibt, selbst in den letzten Kriegsjahren nie vollständig verschwunden war. Dass den Zeitgenossen die Jazzwelle, die mit den GIs in das Leben breitester Bevölkerungsschichten so plötzlich hereinbrach, als ein veritabler Bruch wahrgenommen wurde, verkehrt die Einschätzung nachfolgender Generationen keineswegs zu einer Fehldeutung.

Wolfram Knauer beginnt sein Buch mit einer linearen Erzählung, um diese ab dem Jahr 1949, mit der Gründung der DDR, und dann noch einmal ab 1961, mit dem Mauerbau, in zwei aufeinanderfolgende Erzählstränge aufzuspalten: Einen Jazz im Westen und einen Jazz in der DDR. Erstaunlich, wie erfolgreich sich die staatlicher Repression unterworfene Jazzszene der DDR dem institutionell geförderten Jazz der BRD angleichen konnte, um dann in den 1980er Jahren eine ganz eigenständige Vielfalt zu entwickeln, die nicht nur beide Szenen dies- und jenseits der Mauer gleichermaßen zu einer Hochblüte führen sollte, sondern die – im Rahmen des Machbaren – einen regen Austausch zur Folge hatte. Mauerfall und Wiedervereinigung sind die markanten Ereignisse, um die parallel, gelegentlich auch in unterschiedliche Richtungen laufenden Stränge wieder in einen gemeinsamen Strom einmünden zu lassen, wobei das Bild einer Hauptströmung für die drei vergangenen Dezennien nur noch bedingt tauglich ist, denn die Nebenarme verzweigen sich in einer rasanten und unvorhersehbaren Weise, was zur Folge hat, dass die terminologische Bestimmung, was Jazz sei und was nicht, immer komplizierter – und vielleicht auch gegenstandsloser – wird.

Um Musik am Leben zu erhalten und in der Gesellschaft zu verankern, bedarf es nicht nur der Musiker und ihrer Musik. Jazz (in besonderem Maße) ist bis heute eine Musik, die vom Live-Erlebnis lebt, deren Siegeszug aber ohne mediale Vermittlung und institutionelle Förderung in staatlicher wie auch privater Hand nicht hätte stattfinden können. Mehrere Themenschwerpunkte des Buches sind daher Institutionen des Kulturlebens gewidmet, an erster Stelle sind dies Schallplattenfirmen und CD-Label, sodann der Rundfunk, Vertriebe, Zeitschriften und nicht zuletzt die Jazzfestivals. Die 1964 gegründeten Berliner Jazztage, seit 1981 unter dem Namen Jazzfest Berlin firmierend, fanden von Beginn an – im ersten Jahr spielte Miles Davis – internationale Beachtung. All diese Instanzen, Körperschaften, Institute hängen letztlich von den Menschen ab, die dahinterstecken. Wie wohl wäre die Entwicklung des Jazz in Deutschland ohne den auf breiter Basis vernetzten Buchautor, Schallplattenproduzent und Rundfunkredakteur Joachim-Ernst Berendt verlaufen? Mehr als 30 Jahre lang erklärte er mit seiner magischen, einschmeichelnden Stimme den Rundfunkhörern und gelegentlich auch den Fernsehzuschauern den Jazz, doch Mitte der 1970er Jahre wandte er sich langsam vom Jazz ab, dessen damals jüngsten Tendenzen er nicht nur Hedonismus, sondern gar eine Faschismus-Nähe vorwarf (vergleichbare Entwicklungen der Neuen Musik wurden in derselben Zeit mit genau denselben Vorwürfen kommentiert).

Das ein wenig sparsam bebilderte Buch enthält eine ausführliche Bibliografie und sehr nützliche diskografische Hinweise. Dank seiner guten Lesbarkeit und der exzellent aufbereiteten Materialfülle muss es jedem Jazzfan wärmstens empfohlen werden, für die Kenner ist das Buch Pflichtlektüre.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 02.01.2022

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