Michael Schwalb: René Leibowitz. Missionar der Moderne [Peter Sühring]

Michael Schwalb: René Leibowitz. Missionar der Moderne. – München: edition text + kritik. 2022. ‑131 S. s/w Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-622-6 : € 19,00 (kt.)

Das im Untertitel dieser Monografie hervorgehobene Missionarische im Charakter von René Leibowitz mag noch einer der unangenehmeren Züge im Wirken dieses bedeutenden Musikers, Komponisten, Dirigenten und Musikschriftstellers gewesen sein. Glücklicherweise war es mit Selbstzweifeln und relativierenden Erfahrungen durchsetzt, sodass er eine eingeengte Mission für eine bestimmte Strömung innerhalb der Moderne nicht stur durchhielt und sich auch sein Begriff davon, was modern oder avantgardistisch sei, änderte. Diese produktiven Inkonsequenzen, das Neben- und Nacheinander divergierender Einstellungen und Haltungen, die nur zeitweiligen, von Erfahrung korrigierten Festlegungen, die auch als schillernd und willkürlich erscheinen können, herausgearbeitet zu haben, ist eines der großen Vorzüge dieser Darstellung.

Schwalbs Buch teilt sich in zwei Ebenen, in eine fließende Erzählung des konfliktreichen und zeitweise auch gefährdeten Lebenswegs in vier Perioden und in vier, in diese Erzählung eingebettete, sie unterbrechende resp. abschließende zusammenfassende Darstellungen von Leibowitz als Komponist, Schriftsteller, Lehrer und Dirigent. Hinzu kommen noch zwei Abschnitte über Leibowitz’ Aufenthalte in den USA an der Seite Arnold Schönbergs in November/Dezember 1947 und im März 1950 sowie über Leibowitz’ Auftritte in Darmstadt während der Ferienkurse für Neue Musik. Die Perioden umfassen die Zeiten seiner lettisch-polnischen Jugend und frühen Ansiedlung in Paris während der späten 1920er Jahre bis zur deutschen Besatzung (1913-40), seines Untertauchens an der Cote d’Azur und seiner Rückkehr nach Paris (1940-47), seiner ersten Erfolge in Paris und seiner Auseinandersetzung mit Schönberg in Los Angeles (1948-60) sowie die abschließende Periode, die von Triumphen und Verlusten geprägt war (1960-72).

Zu einigen der in den Erzählungen gegebenen Beschreibungen könnten kleinere Ergänzungen oder Korrekturen angebracht werden, die aus anderen Quellen als den von Schwalb benutzten gezogen werden können. So hätte es eine Beziehung anschaulicher gemacht, hätte Schwalb erwähnt, dass die erste experimentelle Zwölftonreihe Paul Dessaus für sein Pariser, Picasso gewidmetes Klavierstück Guernica von 1937 auf eine Anregung von Leibowitz zurückging. Oder es wäre seine Beschreibung der Beziehung zwischen Leibowitz und Adorno dahingehend zu präzisieren, dass nach einem ersten schriftlichen Gedankenaustausch und einer kurzen Begegnung in Los Angeles 1947 die Beziehung erst 1949 zu einer Freundschaft wurde, als Adorno im Rahmen seiner ersten Nachkriegs-Europa-Reise im Oktober 1949 zuerst in Paris Station machte, dort Leibowitz wieder traf, der dort und dann große Sympathien für sich bei Adorno weckte, und man anfing, sich zu duzen ‑ nachzulesen in Adornos „Tagebuch der großen Reise, Oktober 1949, Aufzeichnungen bei der Rückkehr aus dem Exil“ (Frankfurter Adorno Blätter, Band 8, München 2003, S. 102ff.).

Die bis heute in manchen Kreisen für sinnvoll gehaltene Gegenüberstellung von Schönberg und Strawinsky als Protagonisten zweier feindlicher Richtungen ‑ was der polystilistische Strawinsky dadurch unterwanderte, dass auch er mit seriellen Methoden experimentierte, während sogar Schönberg anfing, sich wieder tonaler Mittel zu bedienen ‑ wurde von Adorno und Leibowitz um 1949 dahingehend ideologisch verabsolutiert, dass Strawinsky als Vertreter einer reaktionären Strömung innerhalb der Moderne denunziert wurde. Zwar wird die bis ins abstoßend Doktrinäre sich steigernde Verehrung Leibowitz’ für Schönberg auch als eine solche geschildert, aber die kreuzzugartige Stimmung, in der sich der existentialistisch orientierte Leibowitz und der ideologiekritisch verstiegene Adorno gemeinsam und gleichzeitig ihren Attacken gegen Andersdenkende und -komponierende hingaben, wird in ihrem anmaßenden und intoleranten Charakter nicht gebührend benannt. Von Schwalb kann man in seinem dem Komponisten Leibowitz gewidmeten Kapitel dann erfahren, dass Leibowitz in seinen eigenen Kompositionen aus dieser Zeit nicht nur einfach die „Zwölftontechnik benutzte“, sondern „damit auch Musik gemacht“ hat, wie Schönberg es sarkastisch von seinen Pariser Anhängern wünschte.

Eindringlich schildert Schwalb die gefährlichen und abenteuerlichen Episoden im Leben von Leibowitz während seiner für seine Selbstverständigung und schriftstellerische Fundierung so wichtigen Jahre als untergetauchter Musiker an der Cote d’Azur in den frühen 1940er Jahren und seine wagemutige und erstaunliche Rückkehr ins noch besetzte und umkämpfte Paris sowie das Beziehungsgeflecht innerhalb der Resistance. Dass sich Leibowitz einerseits der Zwölftonmusik verschrieb, andererseits mit den französischen Existenzialisten um Jean Paul Sartre verband und in deren Zeitschrift Les temps modernes den Standpunkt einer musique engagée zu entwickeln und zu verteidigen suchte, mag befremden, zeigt aber die Tendenz vieler origineller Künstler, sich aus einer Art Sicherheitsbedürfnis und als Notausgang einer Doktrin anzunähern, um nicht der intellektuellen Heimatlosigkeit zu verfallen.

Mit der wachsenden Anerkennung als praktischer und theoretisierender Musiker, die sich Leibowitz in der europäischen Öffentlichkeit allmählich erkämpfte, konnte er auf solche Geländer oder Krücken verzichten und erscheint in seinen späteren Arbeiten als ein etwas freierer Geist. Diesen Prozess nachgezeichnet zu haben, ist ein weiteres Plus in Schwalbs Darstellung.

Abgesehen von den didaktisch und detailanalytisch ausgerichteten Schriften von Leibowitz, die sich apologetisch mit der Zwölftontechnik besonders anhand der Kompositionen Anton von Weberns beschäftigten und vor allem durch die bis heute kursierenden Begriffsprägungen Dodekaphonie und Serialismus Schule machen konnten (aber nie ins Deutsche übersetzt wurden) veröffentlichte Leibowitz für das französische Publikum auch Bücher zur Musik- und speziell zur Operngeschichte, die mit seiner Tätigkeit als Dirigent an europäischen Opernhäusern und Konzertsälen unmittelbar zusammenhingen. Sie sind bei genauer Lektüre stellenweise etwas belangvoller als Schwalb zugeben möchte, denn sie enthalten immer wieder vom Hauptstrom der Musikgeschichtsschreibung abweichende feinsinnige Akzente, so, wenn Leibowitz bei seiner Besprechung der Opern Mozarts von der allgemein verkannten und kaum beachteten fragmentarischen Salzburger Kurzoper Zaide als von einer „Drehscheibe der Entwicklung Mozarts“ spricht.

Schwalb schildert die Spannungen und das schließliche Zerwürfnis zwischen Leibowitz und Schönberg, bei denen es um Fragen der Bearbeitung (Leibowitz hatte Klavierlieder Schönbergs instrumentiert), der Besetzung (Leibowitz hatte die im Bassschlüssel notierte Sprechsingstimme aus der Ode an Napoleon von seiner Lebensgefährtin singen lassen) und des Status von Leibowitz’ Spartierung von Schönbergs Particell zum dreisprachigen Survivor of Warsaw ging, derartig, als ob man nicht sagen könne, ob nun Schönbergs Starrsinn oder Leibowitz’ Willkür Schuld waren an dieser bis zum Tod Schönbergs offen gebliebenen Wunde. Eitelkeiten gab es auf beiden Seiten, beide auch argumentierten von musikalischen Gesichtspunkten aus, aber nur beim letzten der drei Streitpunkte wird man sagen können, dass Schönberg undankbarer Weise die Leistung von Leibowitz bei der Vollendung seines Werkes nicht anerkennen wollte. Zwar hätten auch Bach, Monn und Brahms sich bei Schönberg für dessen Bearbeitungen ihrer Werke bedankt, aber es ist ein Unterschied, ob man dies zu Lebzeiten eines verehrten Meisters und ohne dessen Einverständnis macht oder posthum, und Schönberg musste im Falle der Klavierlieder den Eindruck haben, Leibowitz hielte sie für verbesserungswürdig. Shelleys Anklage gegen Napoleon von einer weiblichen Stimme singen zu lassen, darf man getrost als einen aufführungspraktischen Fehltritt bezeichnen.

Apropos Matthias Monn, diesen Vertreter der Ersten Wiener Schule, dessen Violoncellokonzert Schönberg bearbeitete. Bei eigentlich unzulässigen Vergleichen zwischen der Ersten und der Zweiten Wiener Schule wird leider immer öfter und auch von Schwalb so getan, als ginge es bei der Ersten um Haydn, Mozart, Beethoven. Ist es schon gewagt genug, diese drei, wie es sich unverständlicherweise eingebürgert hat, unter eine einzige Hausnummer wie die einer „Wiener Klassik“ zu subsummieren, so sollte man sie nicht mit der Ersten Wiener Schule verwechseln, die zuerst von Daniel Schubart im Vergleich zur Mannheimer und Berliner Schule so genannt wurde und zu deren Vertretern außer Monn noch Wagenseil, Muffat und Gassmann gehörten.

Es muss noch auf den Interpreten Leibowitz eingegangen werden, den bedeutenden Dirigenten, wegen dessen hervorragenden Fähigkeiten und Leistungen er unbedingt in diese den Interpreten des 20. Jahrhunderts gewidmeten Buchreihe aufgenommen werden musste. Neben seinen luziden Einspielungen schwieriger zeitgenössischer Musik, inkl. der eigenen und neben denen von Offenbach-Operetten als Kontrastprogramm steht hier die Aufnahme aller Beethoven-Sinfonien im Zentrum des Interesses von Schwalb. Auch sie folgen dem modernen Ideal klanglicher Transparenz, klarer Disposition der Orchestergruppen und nähern sich dem Ideal von Röntgenaufnahmen des musikalischen Körpers an, die von der Zweiten Wiener Schule aus analytischem Interesse für die Aufführung älterer Musik propagiert wurde. Zwar ist Leibowitz zu ihrer Realisierung auf Beethovens Handschriften zurückgegangen und hat historische Tempostudien getrieben, sodass diese Aufnahmen wirklich wie in einem Glashaus sitzend klingen, er hat aber bestimmte schon von Wagner herrührende Modernisierungen, Anpassungen an den jeweils modernisierten Orchesterapparat, wie die Übertragung vom Holz aufs Blech und andere Verdoppelungen, nicht rückgängig gemacht – dies blieb den Praktikern einer historisch getreuen Aufführungspraxis, wie Harnoncourt, vorbehalten. Der entschlackte Eindruck rührt bei Leibowitz von der Aufspaltung der Klangmassen, der minutiösen Artikulation und dem angezogenen Tempo her.

Schwalbs Monographie über Leibowitz ist eine mit Wissen und Zuneigung, gepaart mit empfehlenswerter Distanz und einem Schuss Skepsis geschriebene Darstellung eines modernen Künstlerlebens, die die Irrtümer, Gefährdungen, produktiven Schwankungen und Mehrdeutigkeiten nicht verschweigt, sondern sie als die unvermeidlichen Auswüchse eines schöpferischen Lebens gelten lässt.

Peter Sühring
Bornheim, 19.12.2022

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