Matthias Schmidt: Fritz Kreisler. Ein Theater der Erinnerung [Oliver Wurl]

Matthias Schmidt: Fritz Kreisler. Ein Theater der Erinnerung. – München: edition text + kritik, 2022. 168 S.: einige s/w Abb., Noten. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-614-1: € 24,00 (kt.; auch als e-Book)

Fritz Kreisler (1875–1962) galt zu Lebzeiten als der „König der Geiger“ (Harald Eggebrecht), sein ansonsten recht kritischer Kollege Carl Flesch bezeichnete ihn als den einflussreichsten Violinisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heute noch sind seine Kompositionen als Zugabestücke beliebt, die Noten dazu in verschiedensten Editionen lieferbar. Seine zahlreichen Schallplattenaufnahmen sind vollständig als CD-Transfer erhältlich.

Eine deutschsprachige Biografie Kreislers erschien 1957 (Louis P. Lochner: Fritz Kreisler,
Wien) und ist lange vergriffen, lediglich sein „Frontbericht eines Virtuosen“ aus dem Ersten Weltkrieg ist als kommentierte Ausgabe erhältlich (Trotz des Tosens der Kanone, ISBN 978-3-99200-135-4), eine aktuelle Biografie fehlte bisher.

Kreisler wird 1875 in Wien als Sohn eines jüdischen Arztes geboren, der unter anderem Hausarzt von Sigmund Freud ist. Kreisler ist, wie sollte es auch anders sein, ein Wunderkind. Der Zehnjährige gewinnt 1885 die Goldmedaille seiner Ausbildungsstätte, des Wiener Konservatoriums. Er setzt seine Studien in Paris bei Lambert Joseph Massart fort, gewinnt 1887 den ‚Premier Grand Prix’ des dortigen Konservatoriums. 1888–89 folgt eine erste USA-Tournee mit dem Pianisten Moriz Rosenthal. Nach privaten Studien und einer Militärausbildung entscheidet er sich, Berufsmusiker zu werden. Er debütiert 1898 mit dem Wiener, 1899 mit dem Berliner Philharmonischen Orchester. 1902 heiratet er Harriet Lies, eine in den USA geborene Deutsche, die ihn und seine Karriere fortan höchst erfolgreich managt. Ab 1903 unternimmt er zahlreiche Konzertreisen in Europa und den USA, in manchen Jahren soll er bis zu 260 Konzerte gegeben haben. 1910 erscheinen seine Klassischen Manuskripte, verschollene Kompositionen bekannter Komponisten, die er angeblich in einer Klosterbibliothek entdeckt hat; 1935 gibt Kreisler zu, dass es eigene Kompositionen sind, dieser „Skandal“ tut seiner Popularität keinen Abbruch.

1914 Kriegsdienst in der österreichisch-ungarischen Armee, nach einer Verwundung wird er ehrenhaft entlassen und lebt bis 1918 in den USA. 1919 nimmt er seine internationale Konzerttätigkeit wieder auf, tritt auch in Südamerika, Australien und dem Fernen Osten auf. Von 1924 bis 1939 haben die Kreislers ihren Wohnsitz in Berlin, trotz eines ab 1933 in Deutschland geltenden Auftrittsverbots. Kreisler wird 1938 – nach dem „Anschluss“ Österreichs – französischer, 1943 amerikanischer Staatsbürger. Ab 1940 gibt er zahlreiche Konzerte zugunsten wohltätiger Organisationen, 1947 findet sein letztes Konzert in der Carnegie Hall statt. 1962 stirbt er in New York.

Kreisler gehörte zu den internationalen Superstars des damaligen Musikbusiness, was sich auch in seinen Gagen niederschlägt. Er wurde für seine künstlerischen Leistungen mit zahlreichen Ehrenzeichen und Preisen ausgezeichnet, konnte aber gleichzeitig die Klatschspalten der Zeitungen füllen, verlor aus Unachtsamkeit häufiger seine Geigen, begeisterte sich für Kartenspiele und Kino, liebte gutes Essen und erstklassige Weine, spendete regelmäßig große Summen für Bedürftige und verlor viel Geld bei risikoreichen Anlagen und beim Glücksspiel.

Kreisler macht es seinen Biografen nicht leicht. Die „autorisierte“ Biografie von Louis P. Lochner (New York 1950) beruht im Wesentlichen auf Auskünften und Dokumenten von Fritz und Harriet Kreisler, die sich, wie Matthias Schmidt in dem hier vorgestellten Buch ausführlich darstellt, oftmals als fehlerhaft oder zumindest ungesichert erweisen.

So gibt Kreisler an, als junger Mann einige Semester Medizin studiert zu haben – war aber nie an der Wiener Universität eingeschrieben. Er wurde auch nicht nahe dem Musikverein im 4. Wiener Bezirk geboren sondern im 2. Bezirk, einem Zentrum des jüdischen Lebens in Wien. Die Matura hat er keineswegs am Piaristengymnasium abgelegt, sondern seine Schulausbildung ‚privat’ abgeschlossen.

Kreisler hat, so sieht es Schmidt, für sein Leben ein „Theater der Erinnerung“ ersonnen, ein von Milan Kundera geprägter Begriff und so auch der Untertitel des Buches. Kreislers „schöpferischer Umgang mit der eigenen Erinnerung“ (S. 13), seine geistreichen, witzigen Schilderungen, die charakteristische Begebenheiten in oftmals abweichendem Wortlaut wiedergeben, lassen Rückschlüsse darüber zu, wie Kreisler sich zu verschiedenen Zeiten seines Lebens selbst dargestellt wissen wollte. Schmidt benennt viele dieser Ungereimtheiten und versucht, soweit möglich, ihnen unabhängige Quellen gegenüber zu stellen.

Leider macht es Matthias Schmidt, seit 2007 Full Professor für Musikwissenschaft an der Universität Basel, seinen Lesern auch nicht leicht. Er bietet zwar kluge, gut nachvollziehbare Analysen von Kreislers Kompositions- und Interpretationsstil, verzichtet aber ab den 1910er Jahren zunehmend auf biografische Details und widmet sich stattdessen wiederholt bestimmten Themen wie Kreislers jüdischer Identität oder dem Einfluss des ‚Wienerischen’ in seiner Musik.

Irritierend ist, dass diese Themen im Buch mehrfach behandelt werden, zum Teil mit gleichen Argumenten und redundanten Informationen. Diese ‚ein Schritt vor, zwei Schritte zurück’-Methode macht die Lektüre dann doch etwas ermüdend.

Dennoch: für Kreisler-Bewunderer und an Interperetationsgeschichte Interessierte ein lohnendes Buch, mit viel Wissen über und deutlicher Sympathie für den großen Geiger verfasst.

Oliver Wurl
Berlin, 18.09.2022

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