Oliver Fraenzke: Eduard Erdmann. Philosoph des Klaviers [Peter Sühring]

Oliver Fraenzke: Eduard Erdmann. Philosoph des Klaviers. – München: edition text + kritik, 2022. ‑128 S.: s/w Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-604-2 : € 19,00 (kt.; auch als e-Book)

Durch Ausnutzung aller schon vorhandenen und verstreut publizierten Quellen, die bisher untereinander kaum in Beziehung standen, sowie der Deponate im Erdmann-Archiv der Berliner Akademie der Künste und weiterer Privatarchive hat Oliver Fraenzke, Musikwissenschaftler, Pianist und frischgebackener Redakteur der Bayernseiten der nmz die erste kompakte und in sich geschlossene biographische Darstellung des Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann (1896‑1958) geliefert, sehen wir einmal von dem vieles schon bündelnden 40-seitigen Aufsatz von Volker Scherliess aus dem von ihm herausgegebenen Band „Stunde Null. Zur Musik um 1945“ (Kassel 2014) ab, den Fraenzke wohl versehentlich in seinem Literaturverzeichnis nicht aufführt, obwohl er im Haupttext daraus zitiert. Fraenzke gelingt es durchaus, die in einer Künstlerbiographie meist besonders wichtigen Gradlinigkeiten, aber auch die Sprünge und die entscheidenden Wendepunkte zu benennen, leider aber nur zu benennen, weniger zu beschreiben und interpretierend plausibel zu machen. Und so kann man nur vermuten, dass Erdmanns Lehrer es waren, die aus dem flatterhaften, zu Improvisation in Lebensführung und Kunst neigenden livländischen Jüngling einen ernsten, disziplinierten, gewissenhaften Künstler machten, der noch vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin begann zu reüssieren und sich auf die Seite der in der Reichshauptstadt verpönten Neutöner zu schlagen, ohne allerdings Unwägbarkeiten und Willkürakte für später auszuschließen.

Fraenzke findet schon am Jüngling einiges überheblich und hochtrabend. Einen gewissen Kulturdünkel hat sich Erdmann aber lebenslänglich erhalten (der sich auch in dem Spleen äußerte, nur Erstausgaben von literarischen Werken zu sammeln ‑ dann allerdings auch zu lesen), sodass es einen erstaunt zu hören, er habe auch Schlager als Stoff für seine Musik nicht ausgeschlagen und selbst eine komische Operette geschrieben, deren Klavierauszug ohne Instrumentation allerdings dann als Torso zurückgeblieben ist. Dass Erdmann ein „Philosoph des Klaviers“ (oder besser am Klavier?) gewesen sein soll, klingt selbst etwas hochtrabend. Noch mehr verwundert der Titel „Polyhistor“ für einen Mann, der zwar tatsächlich allseits gebildet und interessiert war, viel wusste, aber nie mit eigenen Forschungen in verschiedenen Disziplinen produktiv war.

Fraenzke erkennt zwar den widersprüchlichen und schwierigen Charakter Erdmanns an, verharmlost und beschönigt dies aber punktuell und kommt eigentlich generell zu einer positiven und unkritischen Beurteilung von Erdmanns Laufbahn und Leistungen. Die Auswahl der Stellungnahmen zu Erdmann ist wohl nicht bewusst selektiv und einseitig belobigend, scheut aber eine offene Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen. Zwar schließen sich Expressionismus und G‑Dur nicht prinzipiell aus, wie Fraenzke suggeriert, aber freitonale Stücke mit traditionellen Schlusskadenzen zu beenden, ist schon eine gewisse Inkonsequenz, die auch mitschuldig sein könnte an dem Umstand, dass Erdmanns Werke heute weder zu denen der Avantgardisten noch der Traditionalisten gezählt werden können und in ihrem schillernden Charakter selten bis gar nicht mehr aufgeführt werden.

Was Erdmanns Kompositionen betrifft, so wäre es interessant gewesen, sich beispielsweise mit Äußerungen des damaligen Frankfurter Zeitgenossen Wiesengrund-Adorno über Erdmann auseinanderzusetzen, der das Eklektizistische an Erdmanns Kompositionsweise recht weitsichtig früh erkannte: „[Erdmann] überzeugte aber mit seiner Sonate für Violine allein auch diesmal nicht von seiner schöpferischen Berufung: das Stück ist aus Einfallsmomenten zusammengesetzt, die schon eigenes Gesicht haben, aber ganz nur von außen unter die Sonatenform gebracht sind, die doch der Struktur solcher zerflatternder Technik völlig entgegen ist: so bleibt es bei loser Unterhaltung“ (Zweiter Abend der von Hermann Scherchen initiierten Frankfurter Kammermusikwoche mit neuer Musik im August 1923, in: Adorno, Musikalische Schriften VI , S. 26). Oder: „Es gab das Klavierkonzert von Eduard Erdmann, hochbegabt wie alle Musik Erdmanns, besonders wichtig als eines der wenigen Zeugnisse aufrichtiger Auseinandersetzung mit Schönberg außerhalb des engeren Schönbergkreises; zugleich mit Hindemith verbunden; dabei ganz originell im motivischen Detail wie in einem seltsamen, sehr charakteristischen Überschwang des Tons. Allerdings bleibt das Werk noch Station, ist weder im Umfang noch in der Fügung des Einzelnen ganz bewältigt. Die kontrapunktische Explikation, die von dem großen Teils sehr aufgelösten Motivmaterial gefordert wird, scheint nicht ganz realisiert, sondern durch zum Teil brüske Vorwärtsbewegung ersetzt; die Form nicht vollends durchkonstruiert; der Schluß dementiert empfindlich und neudeutsch, was vorher war. Das Ganze ist gleichsam Improvisation, im Umkreis des Pianistenklaviers befangen, und ein latenter Liszt, der zumal im Klaviersatz hereinspielt, stimmt dazu sehr genau. Aber wenn Erdmann es vermag, den improvisatorischen Ausbruch zu objektivieren, der elementar in ihm ist, so darf man von ihm kompositorisch das Äußerste erwarten. Es werden sich für ihn vor allem die innertechnischen Aufgaben sehr konkretisieren müssen“ (ein Opernhauskonzert unter der Leitung von William Steinberg, Dezember 1929, in: Adorno, Musikalische Schriften VI, S. 165). Abgesehen von dem selbst wieder hochtrabend objektivierenden Ton des Musikkritikers Adorno in den 1920er Jahren, hat er doch unleugbare Schwächen von Erdmanns Wirken als Komponist erfasst und benannt.

Etwas anders steht es um den Pianisten Erdmann. Zwar dünkte es Erdmann selbst so zu sein, dass er nur gezwungenermaßen Pianist gewesen sei, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen ‑ dies scheint aber eine Selbsttäuschung zu sein, die über seine Misserfolge als Komponist oder seine Langsamkeit beim Komponieren hinweghelfen sollte, zumal er auch ein begeisterter Klavierpädagoge war und während seiner Professuren für Klavier an der Kölner und später noch der Hamburger Musikhochschule eine Menge Schüler heranbildete, darunter die Brüder Kontarsky. An Erdmann ist nicht nur seine Memo- und Anschlagstechnik zu bewundern, mit der er stets alle Werke auch umfangreicher Programme auswendig und charaktervoll vortrug, sondern auch sein Einsatz für die Klavierkompositionen von Schönberg, Berg und von Webern sowie anderer Moderner wie seines Lehrers Heinz Tiessen. Auch sein Engagement für die bis in die 1920er Jahre kaum gespielten Sonaten Schuberts ist neben dem Einsatz Arthur Schnabels für Schubert zur gleichen Zeit ein historisches Verdienst. Und seine Erweiterung des Repertoires zurück in die Zeit vor Bach ist für das Musikleben und die Horizonterweiterung des Publikums bedeutend gewesen. Seine Integration der Klaviermusik von Sweelinck, Froberger, von Kerll und der englischen Virginalisten in reguläre Konzertprogramme für moderne Konzertflügel ist vorbildlich und hat sich bis heute leider nicht durchsetzen können oder ist wieder an die Cembalisten delegiert worden.

Seltsamerweise enthält sich Fraenzke eigener Meinungen und ästhetischer Urteile über Erdmanns Spiel anhand von Beispielen der Interpretation einzelner Werke, obwohl er angebliche „eigene Betrachtungen seines Spiels“ anbietet. Er zitiert aber nur Erdmannns widersprüchliche Grundsätze und Absichtserklärungen über Text- und Werktreue einerseits, sowie das Recht auf subjektive Darstellung andererseits ‑ was Therese Behr-Schnabel dazu veranlasste, von Erdmanns „Paukerei, hässlichem Anschlag und vollkommen verfehltem Ausdruck“ zu sprechen. Ansonsten zitiert er Äußerungen von Zeitgenossen, Freunden und Kritikern, obwohl Fraenzke einige der in der „Diskographie“ aufgelisteten Aufnahmen gehört hat, die zwar wegen Erdmanns Abneigung gegen mechanische Tonreproduktionen nicht über ein Schallplatten-Label veröffentlicht wurden, aber doch als Mitschnitte oder Studioaufnahmen in deutschen Rundfunkanstalten aufbewahrt werden oder über Internet-Kanäle angehört werden können. Hier wäre von heute existierenden Labels noch viel zu leisten, damit sich ein größeres Publikum einen Eindruck von Erdmanns Spiel machen könnte. Am Schluss resümiert Fraenzke nur pauschal und letztlich apodiktisch und abstrakt noch einmal das Bild vom Menschen und Philosophen am Klavier.

Ein erschreckend negatives Beispiel von Meinungsäußerungen über Erdmanns Spiel, wobei man nicht recht weiß, was man von dieser Vernichtung halten soll, stammt von dem musikverständigen Samuel Beckett, der während seiner Deutschlandreise 1937 auch in Berlin Konzerte besuchte und darüber in seinem Tagebuch Notizen machte. Über ein Konzert am 13. Januar 1937 in der Berliner Philharmonie mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Eugen Jochum und über die wohl etwas krisenhafte Darbietung des 5. Klavierkonzerts von Beethoven schrieb er: „Erdmann eine glatte Null, wahrlich erdig, fuchtelt herum, als ob er ein paar Socken bei Harrods verkaufte, greift verzweifelt nach den Noten, schwitzt aus allen Poren, beendet jeden Satz wie durch ein Wunder & mit offensichtlicher Erleichterung, sein uscita stocksteif. Hoffnungslos“ (hier zitiert nach dem Buch „Becketts Berlin“ von Erika Tophoven, Berlin 2005, S.111f).

Erdmann geriet im Dritten Reich in die unvermeidlichen Dilemmata eines Regimegegners, der inmitten einer Diktatur zu überwintern versuchte. Sein Rückzug von der Kölner Professur, sein Rückzug in die ländliche Idylle an der Ostsee, sein freiwilliger Verzicht auf eine Aufführung seiner offiziell nicht verbotenen Kompositionen, seine Weigerung, die modernen Werke anderer Komponisten seiner Generation sowie der von den Nazis geförderten Komponisten zu spielen in allen Ehren; auch dass er den erzwungenen Eintritt in die NSDAP nutzen konnte, um sich den Vorteil zu verschaffen, überhaupt weiter auftreten und seinen und seiner Familie (er hatte in der Weimarer Zeit geheiratet und vier Kinder) Lebensunterhalt mit Konzertieren verdienen zu können, ist wohl kaum kritikwürdig. Seltsam ist nur, dass er mit seinen Auftritten den verordneten Geschmack der NS-Musikpolitik bedienen konnte und auch die klassischen Werke so aufführte, wie es der verschwommen romantisierenden Doktrin der offiziellen Musik-Propaganda entsprach, und er im „Dritten Reich“ von einem Erfolg zum nächsten jagte, womit er sich sogar die Aufnahme in die Liste der „Gottbegnadeten des Führers“ einhandelte.

Leider erzählt Fraenzke die empörende Geschichte von den Repressalien an der Kölner Musikhochschule nur sehr kurz (hier wäre einmal ein ausführlicher Bericht und dessen Bewertung vonnöten gewesen, vielleicht anstelle der peinlich ausgebreiteten Geschichte von Erdmanns Eheanbahnung durch die Mütter von Braut und Bräutigam), so dass zu Fraenzkes Darstellung auch die Frage gar nicht aufkommen kann, wie es einem Denunzianten, einem örtlichen Parteibonzen in Zivil und vier uniformierten SS-Schlägern gelingen konnte, eine Versammlung des gesamten Lehrkörpers der Hochschule zu sprengen, zwei der Professoren zu isolieren und zu verprügeln. Wenn man schon gegen die Entlassung von Hermann Abendroth Widerstand leisten wollte, so hätte man wohl auf ein Mindestmaß an Solidarität und gegenseitigem Schutz der Professorenschaft untereinander achten müssen.

Die Monographie Fraenzkes über Erdmann ist sprachlich mitunter ziemlich unerfreulich, man stolpert laufend über sonderliche und verschrobene Formulierungen, von denen man nicht ahnen kann, ob sie nun dem noch recht jungen Alter des Autors oder seiner bayerischen Herkunft zuzuschreiben sind. Eine Blütenlese wäre sehr lang und soll hier vermieden werden; der Rezensent kommt aber nicht „umher“, wie Fraenzke sagen würde, es zu erwähnen. Dass der Autor den Gegenstand seiner Darstellung meint des Öfteren, und nicht nur an Stellen, wo es um den Knaben oder um Verhältnisse aus der Privatsphäre geht, bei dessen Vor- oder sogar Kosenamen („Ned“) nennen zu müssen und uns von seinem Duzfreund Eduard erzählt, ist allerdings in seiner Pseudo-Intimität unverzeihlich.

Diese Erdmann-Monographie ist trotz der genannten Schwächen lesenswert, da sie aus den bis jetzt zur Verfügung stehenden Quellen ein zusammenfassendes Bild des Künstlers entwickelt und für eine erste Auseinandersetzung mit einer in Zukunft erst noch zu entdeckenden und näher zu erkundenden pianistischen und kompositorischen Hinterlassenschaft dienlich sein kann.

Peter Sühring
Bornheim, 21.08.2022

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