Alessandra Barabaschi: Antonio Stradivari. Die Geschichte einer Legende [Andreas Vollberg]

Alessandra Barabaschi: Antonio Stradivari. Die Geschichte einer Legende. – Wien [u.a.]: Böhlau, 2021. – 305 S.: 40 s/w- u. Farbabb.
ISBN 978-3-205-21204-1 : € 32,00 (geb.; auch als e-Book)

Seinen Familiennamen kennen selbst überzeugte Klassikfeinde. Beim Vornamen aber kommen schon Philharmonie- und Opernabonnenten ins Grübeln. Umgibt doch den größten Geigenbauer der Musikgeschichte bis heute manches ungelöste Rätsel: den Cremoneser Antonio Stradivari (ca. 1647–1737). Und dass der harte Kern heutiger Zunftkollegen ungern sein Insiderwissen mit einer interessierten Öffentlichkeit teilt, erfuhr in ersten Anläufen wohl niemand schmerzlicher als die in Bonn ansässige Kunsthistorikerin und Wissenschaftsjournalistin Alessandra Barabaschi. Umgekehrt hat ihre neue Stradivari-Monographie dank insistierenden Nachforschens ein recht betagtes Konglomerat an Wälzern und Miszellen zum Violinbau mit einem gründlich recherchierten, perspektivenreichen Informationsschub auf einen brisant aktuellen Stand gebracht.

In speziellen, auch hier ausgewerteten Vorträgen und Essays hat Barabaschi Vorarbeit geleistet. Und ihre instrumentenkundliche Expertise profitiert von ihrer auch in Kriminalromanen und Reiseführern bewährten schriftstellerischen Verve. Nun mögen eingängige Diktion und manches schalkhafte Aperçu stilistisch das Format der Populärwissenschaft streifen. Selten aber gelingt so bravourös wie hier der Spagat zwischen einem abwechslungsreichen Lese- und Bildband für den interessierten Einsteiger und einem daten-, quellen-, fakten- und an O-Tönen (Kastentexte: „Was die Koryphäen sagen“) reichen Kompendium für den auf stichhaltige Belege angewiesenen Fachmann.

Herzenssache ist hier also „kein Zauberer, der irgendwelche Formel für das perfekte Instrument besaß (…), d. h. weniger ‚Mythos‘ und mehr ‚Mensch‘.“ (S. 13) Um Mensch und Zeit – bis in die heutige – strukturiert darzustellen, liegt eine chronologische Marschrichtung auf der Hand. In 23 Kapiteln aber setzt Barabaschi überraschende Akzente, die wechselnd biographisch-dokumentarisch, geographisch-politisch, soziologisch, musik-, kunst- und baugeschichtlich, oder ikonographisch grundiert sind. „Ist Ihnen schwindlig?“ (S. 25), gipfelt salopp eine spannend referierte, obwohl spekulativ bleibende Spurensuche zu Vorfahren, Lebensdaten und Wohnorten, deren Datenlieferanten neben Kirchenbüchern auch jene berüchtigten Zettel im Geigenkorpus sind, auf denen sich die Schöpfer mit ihrer – oder einer gefälschten – Signatur verewigten.

Wie gerade in prekären Zeiten Kultur gedeiht, zeigt auch das Beispiel Stradivari, dessen „goldene“ Periode“ in eine ökonomische, vom Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) verschuldete Durststrecke der Kleinstadt Cremona fällt. Dank günstiger Lage ein blühendes Zentrum der Textilfabrikation im Herzogtum Mailand, malträtierte nachfolgend die spanische Herrschaft (1535–1707) unter Zutun der städtischen Aristokraten ihre Bauern, Kleinbürger und Handwerker mit drakonischen Steuern und Truppenstationierungen. Die Entwicklung der Geige aus heute exotisch anmutenden Vorformen zum italienischen Standardtyp erschließt Barabaschi aus zeitgenössischen Systematiken, bevor sie Stradivaris Ausgangslage um 1666 konkretisiert: Berufsbild, soziale Stellung (zwischen Handwerker und Künstler) und personelle Organisation einer Werkstatt – sprich: die schon 150 Jahre zuvor von der Familie Amati begründete Cremoneser Geigenbautradition. Hat Stradivari hier gelernt? Möglich. Möglich scheint auch eine Schulung beim Kunstschnitzer Francesco Pescaroli. Denn weitab vom Geigen-Stradivari tut sich das Bild eines facettenreichen, experimentierfreudigen Künstlers auf, der Zargen und Schnecken mit reicher Ornamentik verzierte, ferner auch Celli oder Harfen, sogar Transportkoffer verfertigte. Überhaupt die persönlichen Beziehungen. Trotz Konkurrenz gab es Kooperationen. In ein Haus Pescarolis etwa zog Stradivari kurzzeitig mit seiner ersten Frau Francesca Ferraboschi. Der früh Verstorbenen, die er als Witwe (nach Tötung des Gatten durch ihren eigenen Bruder) geehelicht hatte, und ihrer Nachfolgerin Antonia Maria Zambelli widmen sich Passagen von dokumentarisch reicher Intensität. Ähnliches gilt, abgestuft nach Bedeutung, auch seinen insgesamt elf Kindern, die beruflich die Wahl hatten zwischen väterlicher Werkstatt, Kirche oder Kaufmann. Aus Maßnahmen zu deren finanzieller Absicherung gewinnt das Porträt einen seiner markantesten Züge: den des raffinierten Geschäftsmanns. Porträts im visuellen Sinn des Wortes lieferte die Malerei, deren zwangsläufig hypothetische Kreationen Barabaschi kunstpsychologisch feinsinnig ausleuchtet.

Die Veredlung der Geige vom einfachen Singstimmendouble zur Krone des Orchestersatzes ergab sich aus dem Bedeutungsgewinn der Instrumentalmusik. Zur treibenden Kraft erkürt Barabaschi hier einen anderen berühmten Cremoneser: Claudio Monteverdi, der in Mantua und Venedig die Begleitparts in Oper und Sakralmusik differenzierte. Als Dienstherr der Musik verlangte eine überwiegend adlige und klerikale Kundschaft Instrumente von Qualität. Allerdings: Bei aller Prominenz rangierte Stradivari zu Lebzeiten nicht unter den Spitzenverdienern. Die Geigen Amatis oder des Tirolers Jakob Stainer rangierten höher. Deren Historie und die der konkurrierenden Traditionsbetriebe in Cremona, Brescia u.a. tritt vergleichend, oft verflochten, hinzu: Guarneri, Ruggeri, Guadagnini oder Bergonzi. Wenn mit dem Tod von Sohn Francesco 1743 die Werkstatt Stradivari ihre Pforten schließt, kann vom Ende ihrer Geschichte keine Rede sein. Gerade jetzt eröffnet sich ein Kosmos der weltweiten Auf- und Verkäufe, Sammlungen, Fälschungen und wilden Theorien allein über die bis heute nicht definitiv geklärte Lackrezeptur. Illustre Exemplare wurden auf ihrer Odyssee nach langjährigen Besitzern oder Lokalitäten benannt. Das auf verwunschenen Anwesen verschollen geglaubte Dornröschen etwa spielt heute Isabelle Faust.

Und erinnern in Cremona Gedenktafeln nur vage an Stradivaris Wohnsitze und den Ort seiner einstigen Familiengruft in der abgerissenen Kirche San Domenico, so macht die Stadt ihm und ihrer vitalen Geigentradition (immaterielles Weltkulturerbe!) alle Ehre mit dem Museo del Violino.

Andreas Vollberg
Köln, 22.08.2022

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