Mâkhi Xenakis: Iannis Xenakis. Mein Vater [Rüdiger Albrecht]

Mâkhi Xenakis: Iannis Xenakis. Mein Vater / Aus dem Franz. übers. von Ulrike Kolb. Hrsg. von Thomas Meyer. – Mainz: Schott, 2022. – 222 S.: Farb- und s/w-Fotos, Abb. (edition neue zeitschrift für musik)
ISBN 978-3-7957-2570-9 : € 36,00 (Klappenbroschur)

Biografien, deren Urheber aus der Familie des Portraitierten stammen, scheinen derzeit Konjunktur zu haben. Die Gründe sind naheliegend: Häufig befindet sich der Nachlass noch in Familienbesitz und die Deutungshoheit soll nicht an Dritte abgetreten werden. Bettina Zimmermann hat kürzlich eine überaus gelungene Biografie ihres Vaters vorgelegt, Nuria Schoenberg Nono forscht über ihren Vater Arnold Schönberg und verwaltet den Nachlass ihres 1990 verstorbenen Ehemannes Luigi Nono, und eine eher schwierige Familiengeschichte arbeitete Deborah Kagel mit ihrer kritischen Würdigung des Vaters Mauricio Kagel auf. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gingen die Nachkommen nicht gerade zimperlich damit um, die Familienhistorie auf den erwünschten Kurs zu trimmen: Fälschung und Vernichtung unliebsamer Quellen waren gängige Methoden, um die Geschichtsschreibung zu kanalisieren; Elisabeth Förster-Nietzsches Neudeutung von Leben und Werk ihres Bruders, des Philosophen Friedrich Nietzsche, ist der wohl prominenteste Fall. Posthume Quellensichtung und -bewertung kann im besten Falle korrigierend eingreifen, doch zeigt sich immer wieder, dass einmal ausgelegte Fährten sich als überaus resistent erweisen können.

Über derartige Zweifel hagiografischer, beschönigender Darstellung ist das von der 1956 geborenen Mâkhi Xenakis‘ zunächst 2015 in französischer Sprache und jetzt anlässlich des (nicht zweifelsfrei gesicherten) 100. Geburtstages ihres Vaters auf Deutsch erschienenem Buch erhaben. Die Autorin, nach dem Tod ihrer Mutter alleinige Nachlassverwalterin, hat als vielseitige Künstlerin und Schriftstellerin bereits 1998 eine Biografie über die französisch-US-amerikanische Malerin und Bildhauerin Louise Bourgeois verfasst. Das Buch über ihren Vater Iannis Xenakis ist streng genommen keine Biografie, es ist ein biografisch gefärbtes Portrait, manche Lebensphasen des Komponisten werden nur kursorisch gestreift.

Xenakis verstand sich selbst als ein aus der Zeit gefallener Zeitgenosse. Die Sehnsucht nach der Antike begleitete ihn von Jugend an, sie äußert sich in den klanglichen Urgewalten zahlreicher seiner Werke. Eine Kindheitserinnerung der Autorin (S. 164-167) ruft das Bild eines Odysseus des 20. Jahrhunderts herauf: Wie ihr Vater im Korsika-Urlaub auf den Sturm wartet, um dann zusammen mit der Tochter im Kajak – zum Entsetzen der Mutter – auf das tosende Meer zu fahren, den Naturgewalten trotzend.

Humanistische Bildung, das Studium der Mathematik und alter Sprachen prägten die Schulzeit des in Rumänien geborenen und ab dem zehnten Lebensjahr in Griechenland lebenden Komponisten. Als nicht minder bedeutsam sollten sich einige Jahre später die politischen Erfahrungen als Mitglied und als Anführer einer Widerstandsbewegung gegen die italienischen, dann deutschen und bulgarischen Besatzer in Athen erweisen, was im Februar 1945 zu einer schweren Verwundung mit dem Verlust des linken Auges und einer entstellten linken Gesichtshälfte führte – existentielle Erfahrungen, die sein Denken und seine Musik entscheidend beeinflussten. Nicht Politik sei es, die die Welt verändere, befand er indes später, sondern die Musik (S. 43) – eine bewusst provokante Haltung gegenüber seinen Zeitgenossen, zumal in den 1960er Jahren, als Komponisten wie Nono oder Hans Werner Henze das Komponieren zeitweilig der politischen Aktion zu opfern bereit waren. Ein Solitär innerhalb der Musikszene seiner Zeit war Xenakis aber auch in anderer Hinsicht: da er der seriellen Musik skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, wurde ihm von Pierre Boulez und anderen der Zugang zu den Institutionen versperrt – und gleichzeitig fand er Fürsprecher in Olivier Messiaen und Hermann Scherchen.

In zehn Kapiteln nähert sich Mâkhi Xenakis ihrem Vater und seinem Schaffen. Nach dem ersten, sehr ausführlichen Kapitel zu Herkunft, Kindheit und Jugend des Komponisten schildert sie im zweiten Kapitel zwei wichtige Ereignisse: 1947 die Begegnung mit dem Architekten Le Corbusier und drei Jahre später die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau, der Dichterin und Journalistin Françoise Gargouïl. Le Corbusier überträgt ihm einen entscheidenden Anteil an der Konzeption des Klosters La Tourette in der Nähe von Lyon – Xenakis entdeckt hierbei Parallelen zwischen Architektur und Musik, die sein Werk fortan prägen werden. Dem Durchbruch als Komponist in den 1950er Jahren ist das vierte Kapitel „Genese“ gewidmet, es ist das ausführlichste Kapitel des Buches. Mâkhi Xenakis wertet hier Tagebücher und Briefe ihres Vaters aus, begleitet von zahlreichen Skizzen- und Partiturabbildungen. Im Zentrum steht die Entstehungsgeschichte der Orchesterkomposition Metastasis, quasi seinem offiziellen Opus 1, dessen spektakuläre Uraufführung in Donaueschingen 1955 wie ein Blitz einschlug (Xenakis war da bereits 33 bzw. 34 Jahre alt!) – diese Musik konnte weder vom seriellen Lager noch von den Traditionalisten vereinnahmt werden. Xenakis‘ Werke entfesseln Naturgewalten, denen sich kein Hörer entziehen kann; ihnen haftet etwas Rohes, Ungestümes an, orchestrale Brillanz sucht man eher vergebens. Mâkhi Xenakis zeigt auf, wie ihr Vater anstelle traditioneller satztechnischer Verfahren Prinzipien der Mathematik, Logik und Architektur nutzte, um das musikalische Material zu generieren und zu strukturieren: Das virtuose Klavierstück Herma von 1961 etwa kann als Vorläufer der New Complexity um den britischen Komponisten Brian Ferneyhough gelten. Die Autorin, die zwar mehrfach betont, über keinen musikwissenschaftlichen Hintergrund zu verfügen, stellt überzeugend heraus, dass solche Verfahren nicht abstrakt, sondern stets aus dem Erlebten zu denken seien. In ihrer Darstellung von Xenakis‘ musikalischem Kosmos wird verständlich, warum seine so plastische Musik jeglicher gestischen, illustrativen Elemente entbehrt.

Das Buch hat dort seine Stärken, wo Mâkhi Xenakis persönliche Erinnerungen und Beobachtungen, auch unbekanntes Archivmaterial beisteuert: dies sichert dem Text Lebendigkeit und Authentizität, am deutlichsten im siebten Kapitel, dem zentralen Portrait des Vaters. Ein wenig störend macht sich die mangelnde musikalische Repertoirekenntnis der Autorin bemerkbar, was vom Herausgeber in den wenigen Fällen leicht hätte korrigiert werden können, so etwa, wenn sie Xenakis‘ Vorliebe für Brahms erwähnt und als Beispiel dessen Cellosonate nennt, nicht eingedenk, dass es deren zwei gibt. Doch es gelingt ihr, die Quellen von Xenakis‘ musikalischem Universum und deren Spuren im Werk anschaulich darzustellen. Das kurze Kapitel „Dämmerung“ widmet sich den letzten Lebensjahren des Komponisten. Hier zieht sich die Autorin zurück und überlässt die Erzählung den zahlreichen Fotografien. Warum sie den Spekulationen über Xenakis‘ von schwerer Krankheit gezeichneten letzten Jahren nicht durch Offenlegung den Boden entzogen hat, bleibt indes ein wenig schleierhaft. Ihre literarischen Qualitäten spielt die Schriftstellerin Mâkhi Xenakis im achten Kapitel „Epilog“ aus: Quasi in einer Art Selbstbefragung entdeckt sie ihren Vater und in ihm sich selbst; die Künstlerin Mâkhi spiegelt sich im Universum der Kunst ihres Vaters. Als letztes Kapitel „Zürich, 1988“ ist ein aufschlussreiches Gespräch mit dem schweizerischen Musikwissenschaftler Thomas Meyer abgedruckt, hinzugefügt vermutlich für die deutsche Neuausgabe, doch ohne einen Hinweis, warum gerade dieses Gespräch für das vorliegende Buch ausgewählt wurde.

Zahlreiche Fotografien, Abbildungen von Skizzen und Auszügen aus Tagebüchern bereichern das ansprechend gestaltete Buch. Zitate, durch Einrückung kenntlich gemacht, werden nicht nachgewiesen, Quellenangaben fehlen. Der Anhang listet nur die Bildnachweise auf, ein Namens- und Werkregister wäre von Nutzen gewesen.

Mâkhi Xenakis legt mit ihrer biografischen Studie ein lebendiges, authentisches Portrait ihres Vaters vor, das jedem an Xenakis Interessierten als Pflichtlektüre ans Herz gelegt sei.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 21.07.2022

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