Ein Mozart in Lemberg [Peter Sühring]

Karl Gottlieb Schweikart: Franz Xaver Mozart (1825)

Der russische Präsident Putin hat sich ‑ vom westlichen Europa kaum bemerkt geschweige denn aufzuhalten versucht ‑ entschieden, dass Russland nicht mehr zu Osteuropa gehören, sondern zu einem Westasien werden soll. Von Herrn Medwedjew jüngst geäußerte Fieberträume propagieren ein „Eurasien von Portugal bis Wladiwostok“. Es versteht sich von selbst, dass sich das nach Europa hin orientierte, seit 30 Jahren unabhängige ukrainische Volk mit einer gewaltsamen Eingliederung in die Perspektive einer Russifizierung und Asiatisierung nicht abfinden kann und militärischen Widerstand leisten muss, so sehr zerrissen und gespalten es auch heute unter der Oberfläche zu sein scheint. Ein Land mit einer seltenen Vergangenheit kultureller Vielfalt, die schon im Zweiten Weltkrieg grausam gelitten hat, kann sich dem Diktat der Moskowiter nicht beugen.

Ein kleiner Einblick in die aus kleinrussischen, polnischen, deutsch-österreichischen und jüdischen Elementen gemischte kulturelle Vielfalt Lembergs, gelingt auch anhand der Lebensgeschichte jenes Franz Xaver Mozarts, des jüngsten Sohns, dem Constanze Mozart im Todesjahr von Wolfgang Amadé das Leben schenkte. An ihn durfte zur Zeit, als Lemberg (Lwiw) in der ukrainischen Sowjetrepublik lag, nicht erinnert werden, während in jüngster Zeit ein jährliches von der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyvin geleitetes Lemberger Mozart-Festival seinem Andenken gewidmet war. Mozart der Jüngere wurde ein viel reisender Pianist und machte – obwohl ein beachtlicher und eigensinniger Komponist ‑ gar nicht erst den Versuch, aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten, was er in Wien, wo er sich zunächst und auch am Ende seines Lebens wieder aufhielt, nie geschafft hätte. Er suchte sich als seine zweite Heimat Lemberg aus, um hier für die Musikkultur nützlich zu sein. In Wien hätte auch er wie alle anderen nur im Schatten Beethovens gestanden. Zu der Variationen-Sammlung über einen Walzer von Diabelli steuerte er ‑ wie nur noch ein weiterer Komponist ‑ gleich zwei Variationen bei, von denen Diabelli natürlich nur eine drucken ließ (Beethovens hypertrophe 33 Variationen, die das furiose Verschwinden eines Themas dokumentieren, waren eh nicht als Beitrag zu dieser Sammlung gedacht).

Als Fr. X. Mozart sich 1813 aus einem galizischen Dorf kommend, wo er bei einer Adelsfamilie Musikunterricht erteilt hatte, in Lemberg niederließ, war diese Stadt gerade im Auf- und Umbruch und begann als östlichste Stadt der Donaumonarchie „eine der schönsten und vorzüglichsten Städte der k.k. Erblande“ zu werden, wie es in den Briefen über den jetzigen Zustand Galiziens des Reiseschriftstellers Franz Kratter bereits im Jahr 1786, 14 Jahre nach dem Einmarsch österreichischer Truppen, hieß (die Vielfalt innerhalb der Ukraine war nicht nur das Resultat friedlicher Wanderungen und Mischungen, sondern vieler Eroberungen). Das polnisch-ukrainische, österreichisch besetzte Territorium Galizien reichte damals vom schlesischen Krakau bis Lemberg.

Im Lemberg begnügte Mozart sich damit, das in Wien erlernte Klavierspiel auf der Höhe der Zeit zu unterrichten, seine beste Schülerin, Julie Baroni-Cavalcabò, zu fördern, sie zum Komponieren solange zu animieren bis sie, nach einem Besuch Mozarts in der Leipziger antiphiliströsen Davidsbündler-Gesellschaft Schumanns Anerkennung erlangte und er ihr seine Humoreske für Klavier op. 20 widmete. Und Mozart begnügte sich in Lemberg damit, den verarmten Lemberger Komponisten Johann Mederitsch, der ihn einst unterrichtet hatte und der Verfasser imposanter Schauspielmusiken zu Shakespeare-Dramen war, durch Hilferufe an den in London wohnhaften Ignaz Moscheles zu unterstützen. Und, das Wichtigste zuletzt: Er begnügte sich damit, gelegentlich zu komponieren, ohne damit bloße Gelegenheitswerke zu produzieren. Es war nicht sein Ehrgeiz, dem Publikum und der Kritik permanent mit neuen Werken den Kopf hinzuhalten, sondern er war fatalistisch eingestellt und komponierte nur, wenn ihm danach zumute war.

Es entstanden so zwei Klavierkonzerte, von denen das zweite in Es-Dur, das sogenannte „Lemberger Konzert“ aus dem Jahr 1818, vom Hauch eines kommenden Chopin durchweht ist und im Finale mit slawischen Rhythmen spielt, wie eine Aufnahme aus dem Jahr 2004 mit dem finnischen Pianisten Henri Sigfridsson und dem International New Symphony Orchestra Lemberg unter der Leitung von Gunhard Mattes hören lässt. Außerdem komponierte Mozart in Lemberg etliche Kammermusik mit Klavier (darunter für eine Gattung, für die sein Vater nichts hinterlassen hatte, nämlich eine kantilenenreiche Violoncellosonate in der Nachfolge von Boccherini und Beethoven), mehrere Sammlungen von Polonaises mélancoliques und von deutschsprachigen Liedern. Lieder in polnischer und ruthenischer Sprache wurden gerne ohne Noten im Stegreif privat musiziert. Öffentlich konzertierte Fr. X. Mozart in der Serie der Lemberger Dienstagskonzerte, später als bestallter Kapellmeister des von ihm gegründeten Lemberger Musikvereins, der wie in vielen anderen Städten Osteuropas auch nach dem Vorbild der Berliner Singakademie gestaltet war. Diese Anstellung befreite endlich seine Mutter Constanze (verheiratete Nissen) von seinen Geldsorgen, die sie mitzutragen hatte. Er konzertierte nicht nur öfter in Kiew, das im zaristischen Russland lag, sondern trat in den Jahren 1819-21 eine zweieinhalbjährige große Tournee durch Westeuropa an, über die er ein kulturgeschichtlich interessantes Reisetagebuch veröffentlichte.

Es ist hier auch daran zu erinnern, dass Dieter Kühn mit einer episodischen Schilderung in seinem noch lieferbaren Buch Ein Mozart in Galizien aus dem Jahr 2008 eine seiner schönsten Erfindungen machte, und die Geschichte geht so: Auf der von Lemberg aus unternommenen großen Tour d‘Europe, die ihn zunächst nach Kopenhagen zu seiner Mutter Constanze Nissen führt, gelangt Fr. X. Mozart dann über Schwerin und Hamburg auch nach Berlin. Mutter Constanze sucht seit langem nach einem Sujet, das ihren Sohn dazu beflügeln könnte, endlich außer den quantitativ geringfügigen konzertanten Kompositionen endlich eine veritable Oper zu komponieren. Sie wendet sich von Kopenhagen aus zunächst an Friedrich de la Motte Fouqué, der aber nichts Neues liefern will und sie an Adelbert von Chamisso verweist. Diesem versucht sie die Sache dadurch schmackhaft zu machen, dass es sich um etwas Exotisches handeln solle. Für Fr. X. Mozart, der von den Briefen seiner Mutter an die beiden Berliner Dichter nichts ahnt, wird während eines (etwas wahrscheinlicheren, außerdem natürlich trinkfreudigen) Treffens mit E.T.A. Hoffmann und vermittelt von Eduard Hitzig eine Begegnung mit Chamisso inszeniert. Dieser lässt sich animieren, zunächst mündlich etwas preiszugeben aus einer noch unveröffentlichten Geschichte über den auf dem russischen Expeditionsschiff, das nach den Eroberern Kiews „Rurik“ genannt war, mitreisenden (von der Inselkette Ratak verschleppten) Insulaners Kadou und diese dann in ein Opernlibretto umzuwandeln. (Chamisso hatte sich als botanischer und ethnographischer Forscher real auf dieses Schiff verdingt.) Es sollte den Titel: Die Überfahrt tragen. Die im Libretto Omeia genannte Hauptfigur wird auf dem Dreimaster Endurance von Kapitän Fourneaux während der Rückfahrt nach England grausam domestiziert (Die wahre Geschichte des Kadu von Radack und dessen Behandlung durch den Rurik-Kapitän Otto von Kotzebue kann man in Chamissos Reise um die Welt nachlesen). Zu welchen musikdramatischen Ideen dieser Stoff Fr. X. Mozart anreizt, wird von Kühn mit seinem bekanntermaßen guten Musikverständnis sehr eindringlich beschrieben. Aber auch die Situation und die dichtungspoetische Einstellung Chamissos, die ihm nur eine angelegentliche Produktivität erlaubte (der reservierten Art Fr. X. Mozarts, zu komponieren, nicht ganz unähnlich) werden sehr kenntnisreich und treffend geschildert. Diese von Kühn bei Chamisso aufgespürte Schaffensweise nimmt er zum Ausgangspunkt für eine zufällige und spontane Verabredung der beiden Künstler zu einer weiteren antikolonialistischen Humanitätsoper nach Montezuma von Carl Heinrich Graun. Es ist wirklich schade, dass alles nur erfunden ist. Solche Geschichten erfährt oder erfindet man nur, wenn man sich à la Walter Benjamin als Lumpensammler durch die Musik- und Literaturgeschichte bewegt und eine kleine „Unsterblichkeit von 50 Jahren“ (Chamisso) im Schatten der großen wahrzunehmen gewillt ist.

Ein Blick zurück in das Musikleben Lembergs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist immer ein Blick ins Innere Europas. Alles sollte erinnert werden, nichts sollte vergessen werden.

Peter Sühring
Bornheim, Mai 2022

Dieser Beitrag wurde unter Chamisso, Adelbert von (1781‑1838), Komponist, Mozart, Franz Xaver (1791‑1844) abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.