Der Dirigent Hans Swarowsky (1899–1975). Musik, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert / Hrsg. von Markus Grassl u. Reinhard Kapp [Jürgen Schaarwächter]

Der Dirigent Hans Swarowsky (1899–1975). Musik, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert / Hrsg. von Markus Grassl u. Reinhard Kapp. – Wien u.a.: Böhlau, 2022. – 1052 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Tab. (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte ; 15)
ISBN 978-3-205-78497-5 : 90,00 € (geb.)

Es gibt Persönlichkeiten, deren Bekanntheit in diametralem Widerspruch zu ihrer eigentlichen Bedeutung steht, und was bekannt ist, ist zumeist nicht nur fragmentarisch, sondern auch irreführend. Hans Swarowsky war lange Zeit eine solche Persönlichkeit – zwar genoss er (besonders in Österreich) ein hohes Ansehen, doch wurde er zumeist allenthalben als Steigbügelhalter einer ganzen jüngeren Dirigentengeneration (Claudio Abbado, Zubin Mehta, Gabriel Chmura, Jesús López Cobos, Iván Fischer, Helmuth Froschauer, Dimitri Kitaenko, Friedemann Layer, André Vandernoot) angesehen (viele andere, die gerne gelistet werden, haben unter Swarowsky nicht ihren Abschluss gemacht). Vielleicht ist er auch noch als Ko-Librettist (Clemens Krauss hätte bevorzugt Sub-Librettist) zu Richard Strauss’ letzter Oper Capriccio im Bewusstsein.

Gleichzeitig ist Swarowskys dikografischer Nachlass mindestens als problematisch zu bezeichnen – einerseits weil zahlreiche Einspielungen anderer, nicht selten minderer Dirigenten, erschienen auf minderen Labels, ihm unterschoben wurden, andererseits weil ihm manche Einspielung abgesprochen bzw. noch bekannteren Dirigenten zugeordnet wurden. Überdies ist mehr als bedauerlich, dass viele Chancen, Aufführungen Swarowskys mitzuschneiden, augenscheinlich versäumt wurden und so die Diskografie teilweise extrem lückenhaft ist.

Dass Swarowsky weit mehr war, als man gemeinhin weiß, macht der vorliegende Sammelband klar, der sichtlich über mehrere Jahrzehnte hinweg entstand (das Kernmaterial stammt aus den Jahren 1999–2001) und der in drei Hauptabschnitte unterschiedlichen Umfangs angelegt ist. Der erste Teil umfasst die Jahre bis 1933 und erkundet in acht Beiträgen familiären Hintergrund und erste berufliche und private Stationen (inklusive seiner ersten Ehe mit einer Halbjüdin). Besonders substanzielle Betrachtung erfolgt zu Swarowskys enge Verbindung zu und Auseinandersetzung mit der Neuen Wiener Schule, vor allem Schönberg und Webern.

Die Nazizeit kann nur teilweise hinreichend beleuchtet werden, da die Akte zu Swarowskys Mitwirkung im Reichsmusikrat verschollen ist. Um weiter arbeiten zu können, hatte er eine Mitgliedschaft der österreichischen NSDAP gefälscht, was ihm im weiteren historischen Verlauf zum Nachteil geraten sollte. Er versuchte für einige Zeit in der Schweiz unterzukommen, musste aber 1940 nach Österreich zurückkehren. Mit 140 Seiten ist Otto Karners Beitrag zu Swarowsky während der NS-Zeit der umfänglichste des ganzen Buchs und räumt mit vielen Missverständnissen und Vorurteilen auf; doch wird Swarowskys Tätigkeit in Krakau auch aus polnischer Sicht betrachtet, so dass ein sorgfältig ausgewogenes Bild entsteht, das den Musiker in den Zeitwirren als auch immer wieder politisch gebunden zeigt.

Der dritte Teil befasst sich mit Swarowskys letzten dreißig Lebensjahren, in denen er sich in Wien, Graz und Glasgow als Dirigent und Pädagoge nachhaltig profilierte. Wir erfahren viel über den Hochschulpädagogen und Leiter von Meisterkursen, die Tätigkeit mit den Wiener Symphonikern und Philharmonikern und an der Wiener Staatsoper. Es ist nachgerade erschreckend zu sehen, dass er selbst in Österreich nur für Repertoireaufführungen gerade recht galt und nur als Einspringer für eine Saison bei den Salzburger Festspielen dirigieren konnte (sechs Aufführungen des Rosenkavalier 1946 als Einspringer für Karajan, der wegen seines Entnazifizierungsprozesses nicht dirigieren durfte). Über besondere interpretatorische Eigenheiten Swarowskys erfahren wir verhältnismäßig wenig, doch lagen seine Prioritäten ohnehin nicht in der Vorführung einer eigenen Sicht, sondern in der Realisierung der Intentionen des Komponisten. Leider ist von Swarowskys diskografischem Nachlass bis heute nur verhältnismäßig wenig der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden (oder längst wieder vergriffen), dazu nicht selten in inferiorer Klangqualität, doch ist etwa die Bedeutung von seiner Ring-Einspielung aus Nürnberg 1968 unter Kennern längst kein Geheimnis mehr.

Die Swarowsky-Forschung hat den großen Vorteil, dass ihr ein veritables Archiv mit dem persönlichen Nachlass Swarowskys (das Hans-Swarowsky-Archiv in Wien) zur Verfügung steht, aus dem heraus die Erkundung des Opernübersetzers, des Publizisten oder der Privatperson Swarowsky in vorbildlicher Weise möglich ist. Leider fehlt in dem Buch ein Beitrag über den Notenherausgeber Swarowsky – dabei würden wenige Blicke etwa in die kritische Studienpartitur der Fledermaus erweisen, dass bis heute kein Dirigent (auch nicht der bekannteste ‚Wienerische‘) dieses Werk entsprechend den Komponistenintentionen geschweige denn ungekürzt aufführt.

Der Band endet mit einem Epilog, der Der (Wiener) Swarowsky-Diskurs betitelt ist – ein wichtiges Kapitel, das die Sicht der Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen lässt und gerade hierin eine Profilierung von Swarowksys musikalischem Denken zusammenzufassen sucht.

Umfangreiche Anhänge bieten eine vollständige Diskografie inkl. Bewegtbildaufnahmen (inklusive unveröffentlichter und der Listung unterschobener Einspielungen), Verzeichnisse der Übersetzungen, Editionen, Bearbeitungen und publizierten Texte, dazu ein umfassendes Quellenverzeichnis sowie Personen- und Werkregister; leider fehlt ein Ortsregister, das bei biografisch unterfütterten Publikationen immer hilfreich ist; umgekehrt wird das Programm des Swarowsky-Symposiums 2001 geboten, das heute jedoch nicht einmal mehr von großem historischen Interesse ist, aber zeigt, woraus sich die vorliegende sorgfältig lektorierte und layoutete, etwas knapp bebilderte, aber ungemein wichtige und informatiove Publikation entwickelt hat. Eine fast ideale Veröffentlichung zu einer Musikerpersönlichkeit, die nicht nur das Wiener Musikleben, sondern auch die musikalische Orchesterwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.

Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 24.04.2022

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