Musik der Zeit 2. 1998-2021. Essays – Erinnerungen – Dokumentation [Rüdiger Albrecht]

Musik der Zeit 2. 1998-2021. Essays – Erinnerungen – Dokumentation / Hrsg. von Martina Seeber und Harry Vogt. – Hofheim: Wolke, 2021. – 152 S.: Farbfotos, Farb-Abb.
ISBN 978-3-95593-126-1 : € 18,00 (brosch.)

Den Stellenwert, den der Westdeutsche Rundfunk in Köln der Musikpflege, speziell der Förderung der Neuen Musik seit seinen Gründungstagen beimisst, belegt allein die stattliche Anzahl an Publikationen zu diesem Thema. Bereits 1969 dokumentierte ein opulentes, 600 Seiten umfassendes, großformatiges Buch mit dem Titel Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk die Tätigkeiten aller Musiksparten des Senders seit 1948. Den in Witten alljährlich stattfindenden Tagen für neue Kammermusik waren drei Buchpublikationen gewidmet; eine weitere Veröffentlichung nahm die ersten 50 Jahre der Konzertreihe Musik der Zeit in den Blick. Daran knüpft der vorliegende Band an. Dass er nicht nahtlos, also 2001, sondern schon 1998 einsetzt, begründen die Herausgeber mit dem Wechsel der künstlerischen Leitung: In jenem Jahr folgte Harry Vogt, der die Reihe bis heute betreut, auf Wolfgang Becker-Carsten.
Die Musik der Zeit war keineswegs die einzige von einem bundesdeutschen Rundfunksender betreute Neue-Musik-Reihe, der Bayerische Rundfunk konkurrierte mit der von Karl Amadeus Hartmann ins Leben gerufenen musica viva und mit dem zwischenzeitlich wieder eingestellten das neue werk beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg und der einstigen Musik der Gegenwart im Sender Freies Berlin (heute rbb). Doch das unangefochtene Zentrum der Neuen Musik war und blieb zweifellos die Kölner Veranstaltungsreihe. Einer der Hauptgründe dafür war die große Zahl der in der Domstadt lebenden und arbeitenden Komponisten, allen voran Karlheinz Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann neben Mauricio Kagel und György Ligeti. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil an der Attraktivität, die von der „Kölner Schule“ ausstrahlte, ging von der Existenz des von Werner Meyer-Eppler und Herbert Eimert gegründeten „Studio für Elektronische Musik“ aus – nicht zuletzt seinetwegen waren Kagel und Ligeti um 1957 nach Deutschland gekommen.
Der Erfolg und die Nachhaltigkeit solch einer Konzertreihe steht und fällt indes mit ihren Führungspersönlichkeiten. Eine je unverwechselbare Handschrift zeichnete die Amtszeiten von Otto Tomek (von 1957 bis 1971), seines Nachfolgers Wolfgang Becker-Carsten und des heutigen Leiters Harry Vogt aus. Und die öffentliche Wahrnehmung der Konzerte hat durch die in den letzten zwei Jahrzehnten vorangetriebene mediale Präsentation – auf unterschiedlichen digitalen Ausspielwegen – durchaus noch einmal gewonnen.
Das im Vergleich zu seinen Vorgängerbänden schmalere Buch ist wiederum systematisch gegliedert: Zwei Essays und zwei Gespräche werden von drei Blöcken mit jeweils zehn Erinnerungen sowie 30 „Werk-Erinnerungen“ durchflochten. Eine ausführliche Dokumentation macht knapp die Hälfte des Buches aus. Ausgeschmückt wird die Publikation mit zahlreichen Fotos und mit Abbildungen von Konzertplakaten und CD-Covers.
Die beiden Essays sind – ihrer einführenden Funktion gemäß – eher allgemein gehalten. Michael Struck-Schloen thematisiert die Rolle des Rundfunks als Experimentierstätte in Zeiten eines wandelnden Verständnisses des Kulturauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender zwischen der (noch) selbst gesetzten Verpflichtung zur Kulturförderung und – im Gegenzug – aktuellen Sparzwängen im Zeichen ökonomisch begründeter Legitimationsdiskussionen. Wenn Struck-Schloen fortschrittsgläubige Kulturförderung in den Nachkriegsjahren mit einem Fragezeichen versieht, darf nicht verschwiegen werden, dass unbequeme, nichtkommerzielle Kultur stets der Förderung, des kämpferischen Durchsetzens bedarf – das auf Seite 17 angeführte Zitat von Berthold Goldschmidt ist, falls es in diesem Wortlaut so überhaupt getätigt wurde, wohl eher ein Zeugnis persönlicher Verletzung. Darauf, dass die Förderung Neuer Musik im öffentlichen Rundfunk nicht mit Mäzenatentum, einer quasi gönnerhaften Ausschüttung öffentlicher Mittel verwechselt werden darf, sondern Ziel und Inhalt des Kulturauftrages ist, darauf hat vor Jahren Mathias Spahlinger hingewiesen. Auch Rainer Peters, Autor des zweiten Essays, bemängelt die schleichende Neudefinition des Kulturauftrages hin zu einer permanenten Hinterfragung gesellschaftlicher Relevanz dessen, was da gefördert werden soll. Dass diese Diskussion bereits vor 50 Jahren aus der Ecke der 68er Bewegung geführt wurde, zeigt, dass kultureller Fortschritt keineswegs identisch ist mit gesellschaftlichem. Abseits solcher kulturpessimistischen Überlegungen erinnert Rainer Peters an musikalische (Wieder-)Entdeckungen und thematische Schwerpunkte in Konzertreihen, die einerseits die Heroen der neuen Musik – Luigi Nono oder Bernd Alois Zimmermann – in den Mittelpunkt rückte und andererseits zu Unrecht in Vergessenheit geratene Komponisten wie Bruno Maderna, Claude Vivier und Gérard Grisey neu zur Diskussion stellte.
Während die Essays Einblicke von außen – aus der Sicht des Beobachters – vermitteln, bieten die beiden Gespräche des Buches spannende Innenansichten. Harry Vogt berichtet im Gespräch mit Martina Seeber über die zahllosen Klippen, die man als Redakteur und als Veranstalter zu meistern hat. Denn die Musik wird ja nicht nur im Konzert gespielt, sie muss für Sendung aufbereitet werden und wird in vielen Fällen für CD-Koproduktionen im Studio noch einmal sorgfältig einstudiert. Auch Vogt deutet die Rechtfertigungskämpfe, die in und durch die Hierarchien des Senders ausgefochten werden müssen, zumindest an.
In einem zweiten Gespräch diskutieren der Dirigent Baldur Brönniman, die Komponistin Isabel Mundry, der Komponist Enno Poppe und der Orchestermusiker Christian Stach die stetigen Veränderungsprozesse der Institution Orchester und welche Auswirkungen dies auf das aktuelle Komponieren für Orchester hat.
Diese eher grundsätzlichen Fragestellungen werden – in den 30 Erinnerungen – mit sehr persönlichen Schlaglichtern aus der Sicht von Orchestermusikern, Komponisten, Inspizientinnen und Produktionsassistentinnen in Details beleuchtet und – je nach Perspektive – auch mit der Distanz von Orchestermusikern eingefärbt, die Neuer Musik nicht immer mit unbedingter Hingabe begegnen. Liebevolle Annäherung hingegen zeichnen die „Werk-Erinnerungen“ aus, in denen Komponisten, Instrumentalisten und Dirigenten über je ein Werk berichten. Hier erfährt man Überraschendes, etwa wenn der Dirigent Zoltán Peskó berichtet, dass der überaus skrupulös arbeitende György Kurtág eines seiner bedeutendsten Orchesterwerke, die Messages op. 34, vor der Uraufführung 1998 zurückziehen und das Manuskript vernichten wollte.
Doch das Herzstück dieses Buches, das den Leser nach der Erstlektüre erneut zu diesem Band wird greifen lassen, ist die Zusammenstellung der Konzertprogramme von 1998 bis heute. Wie sorgfältig die Programme konzipiert, ja komponiert wurden, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass beinahe jedes Konzert unter einem Motto steht und etliche Konzerte Teil einer oder sogar mehrerer thematischer Reihen sind. Das Konzert am 11. Januar 2002, um nur ein Beispiel herauszugreifen, überschrieben mit The Viola in my life nach dem gleichnamigen Zyklus von vier Violastücken von Morton Feldman, die hier erstmals komplett aufgeführt wurden, ist gleichzeitig das erste Konzert der Reihe Viola und zudem das fünfte Konzert der Passagen. Im Rahmen dieser Übersicht mutiert die Betitelung gelegentlich zu einer Art lustvollen Metatexts, wenn zum Beispiel 2011 die Bilderfresser (nach dem gleichnamigen Werk von Fabio Nieder) auf die Gipfelstürmer (nach Jorge E. Lopéz‘ grandiosem Orchesterwerk Dome Peak) folgen. Mit der zentralen Reihe der Radio-Phonien im Mai und Juni 2000 stellten die Veranstaltungen nicht nur die mediale Provenienz der vorgestellten Musik in den Mittelpunkt – Musik, die ihre Entstehung dem Medium Radio verdankt; die Konzerte öffneten auch einen Blick in die Archive des WDR und regten eine Neuentdeckung des bislang wenig beachteten radiophonen Schaffens Bernd Alois Zimmermanns an, der sich immer mehr als einer der bedeutendsten Komponisten der Nachkriegszeit erweist.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 25.11.2021

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