Henrike Rost: Musik-Stammbücher [Claudia Niebel]

Henrike Rost: Musik-Stammbücher: Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts. – Wien [u.a.]: Böhlau, 2020. – 358 S.: 37 Farbt.; 3 s/w Abb.  (Musik – Kultur – Gender ; 17)
ISBN 978-3-412-51872-1 : € 44,99 (kt.; auch als eBook)

„Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen. Die Schönheit für ein fühlend Herz. Sie beyde gehören füreinander“. Dieses Zitat aus Schillers Don Carlos schrieb Beethoven 1797 seinem Freund Lorenz von Breuning in dessen Stammbuch; dass er selbst ein solches führte (Wien, Österreichische Nationalbibliothek A-Wn, Cod. 15259), welches ihm Bonner Freunde 1792 anlässlich seiner Übersiedelung nach Wien zusammenstellten, ebenso wie Clara (sie führte 1830-1834 als Clara Wieck ein eigenes, Robert-Schumann-Haus Zwickau) und Robert Schumann (SLUB Dresden), Fanny Hensel, Felix Mendelssohn oder Hans Christian Andersen, sei nur nebenbei erwähnt. Die Stammbuchpraxis erlebte im 19. Jahrhundert eine regelrechte Hausse, die Kultur- und Literaturwissenschaften erkannten schon früh das Erkenntnispotential, das sich daraus gewinnen ließ, denn die Stammbücher gelten ihnen als bedeutsame kulturgeschichtliche Quellen. Auch viele Komponist*innen, Interpret*innen sowie kulturell aktive Menschen aus deren Umfeld führten Stammbücher, allein die Historische Musikwissenschaft interessierte sich bislang nicht besonders dafür. Als Dokumente bürgerlicher Geselligkeits- und Salonkultur schien ihr – zumindest auf den ersten Blick – wegen ihres ephemeren Charakters die Ernsthaftigkeit der Inhalte abzugehen. Nichtsdestotrotz erlangte der Handel mit Stammbüchern als Nebenzweig des Buch- und Autographenmarktes durch deren Erwerb durch Museen, Archiven, Bibliotheken oder private Sammler eine enorme wirtschaftliche Bedeutung.
Henrike Rost hat sich – zum Glück muss man sagen – in ihrer Dissertation (an der HfMT Köln) dieses Themas angenommen und damit gleichzeitig die erste, groß angelegte Untersuchung zu diesem Genre vorgelegt. Man darf hoffen, dass mit dieser Arbeit ein entscheidender Anstoß gegeben wurde für weitere Forschungen in Richtung Vielfalt bürgerlicher Musikpraxis im 19. Jahrhundert, kulturelles Handeln speziell von Frauen, interdisziplinäre Vernetzung unterschiedlicher Künste, neuer Werkverzeichnisse (z. B. Ignaz Moscheles), Biographik oder Briefeditionen. Als „Beifang“ ihrer Studie hat Rost z. B. bislang unbekannte Briefe (Rossini, Weber) oder eine Zeichnung von Felix Mendelssohn zutage gefördert. Wenngleich es sich hierbei naturgemäß um eine wissenschaftliche Publikation mit ihren charakteristischen Merkmalen (Aufbau, Lexik, Syntax, Vokabular, Zitate, Fußnoten, Anhänge usw.) handelt, ist doch der Wissensgewinn auch für kulturell interessierte Leser*innen enorm. Die drei perspektivischen Blickachsen, die sie in ihrer Untersuchung konsequent verfolgt, verdeutlichen in der Zielrichtung die Wichtigkeit der Erforschung dieses musikhistorisch bislang vernachlässigten Nebenschauplatzes: Biographie/Lebensgeschichte (Erinnerungen, Abschiede, Reisen), Repräsentation (Verbindungen, „social networking“, Bewunderung, Einflüsse, Vorlieben, Schüler-Lehrer-Verhältnisse) und Musikpraxis (privater Rahmen, Kommunikation, Unterhaltung, Spontaneität). Auf 271 Textseiten erfährt man als Leser*in einerseits interessante Details zur allgemeinen Stammbuchpraxis, andererseits erhält man viele spannende Einblicke in die Vielfalt des Musiklebens im 19. Jahrhundert (Auswertung von 60 Stammbüchern). Die besondere Berücksichtigung der Familie des Komponisten und Klaviervirtuosen Ignaz Moscheles (1794-1870) und der vier Stammbücher (als Farbtafeln im Anhang) aus dessen familiären Umfeld erlaubt die Mikroperspektive auf die Handhabung solcher Alben und deren Bedeutung für die Musikwelt, waren die Besitzer in der Regel ja nicht nur Empfänger, sondern auch selbst „Lieferanten“ für die Alben anderer.
Stammbücher gab es schon im 17. und 18. Jahrhundert, ihre Blütezeit erlebten sie jedoch während der Zeit von ca. 1790 bis 1900, ein Zeitraum, den Rost mit ihrer Studie abdeckt. Interessanterweise waren es mehr Frauen als Männer, die solche Sammlungen anlegten, was auch darin begründet sein mochte, dass die gesellschaftlich erwartete Beschränkung weiblichen kulturellen Handelns hier eines von wenigen Tätigkeitsfeldern eröffnete, welches Frauen in der Regel neben der Hausmusik zugänglich war.
Die Gründe für das Anlegen solcher Stammbücher oder Alben waren ganz vielfältig gelagert, oft lag eine Mischung aus ganz unterschiedlichen Antrieben vor: meist stand ein Freundschafts- oder Erinnerungsmotiv im Vordergrund. Auch wir kennen die Praxis der Poesie- und später Freundschaftsalben aus Schulzeiten, die heute weitgehend abgelöst sind durch modernere, aber auch flüchtigere Formen der Dokumentation via Facebook oder Instagram mit ihren Likes, Verlinkungen, Postings und Ähnlichem. Wichtig war den Inhaber*innen solcher Alben auch immer, Beziehungen, Verbindungen und Netzwerke zu zeigen. Oft spielte gesellschaftlicher Bewahrungswille in einem Zeitalter voller politischer und sozialer Umbrüche eine nicht unwesentliche Rolle. Rost geht von einer nicht annähernd abschätzbaren Zahl solcher Alben allein im 19. Jahrhundert aus, von denen viele verloren sind oder sich noch unbekannt in Privatbesitz befinden. Die Datenbank Repertorium Alborum Amicorum (RAA) weist allein 25.000 bekannte Alben nach, die sich entweder in öffentlichem (Museen, Bibliotheken, Archive) oder privatem Besitz befinden oder im Auktionshandel gelistet sind. Stammbücher aus dem 19. Jahrhundert umfassen mit ca. 9.500 bekannten Titeln fast ein Drittel davon, darunter Musik-Stammbücher im eher zweistelligen Bereich. Als Dokumente der vielfältigen Musikausübung einer künstlerischen Elite, aber auch  als Unterhaltungs- und Kommunikationsmedium stell(t)en sie eine reichhaltige und stilistisch breit gefächerte mediale Ausprägung dar.
Rost spricht von sogenannten Mischalben, weil in der Regel Art und Form des Eintrags nicht vorgegeben waren. Die üblichen Vorlageformen waren entweder ein fertig gebundenes Buch oder eine Art Loseblattsammlung, deren Einzelblätter nachträglich gebunden wurden. Als Beiträge waren literarische Texte, Briefe, Zitate (s. o. Schiller) oder Sinnsprüche willkommen, es finden sich aber auch Haarlocken, Zeichnungen, gepresste Blumen oder eben Musiknotate und kleine Kompositionen. Das Wort „Album“ mag in diesem Zusammenhang verdeutlichen, wie die Form des musikalischen Albumblatts ursprünglich gedacht war. Von Mendelssohn und Schumann ist z. B. bekannt, dass sie dieser Kompositionsform durchaus positiv gegenüberstanden, was bei Erstgenanntem dazu geführt hat, dass sie – soweit bekannt – in sein Werkverzeichnis (MWV) aufgenommen wurden. Mendelssohn und seine Schwester Fanny  wetteiferten mit ihren Musikeinträgen, wollten sie doch die Kunst ihrer Kontrapunktik beweisen. Allgemein beliebt waren daher (Rätsel-) Kanons, erfüllten sie doch alle Voraussetzungen, um Können zu demonstrieren und gleichzeitig nicht allzu viel Platz zu beanspruchen. Rossini hingegen ließ aus Gründen der Arbeitsökonomie den Bittstellern mit leichten Abwandlungen immer dasselbe Notat zukommen. Clara Schumann fand die Praxis lästig, war aber einerseits zu gewissenhaft, um derartige Bitten abzuschlagen und andererseits diente sie ja auch der Pflege wichtiger Beziehungen oder der von „Fans“.
Im Falle Moscheles‘ und seinen Familienangehörigen, denen sich Rost ausführlich widmete, sind die Erkenntnisse sehr vielfältiger Natur: anhand der 154 Einträge in seinem eigenen Album lassen sich das Ausmaß von Verbindungen (es ist die Crème europäischer Musiker vertreten wie z. B. Spohr, Schumann, Bruch, Hummel, Vieuxtemps, Field, Ole Bull, Henry Smart aber auch Goethe, Grillparzer) sowie Lebensstationen oder Routen des reisenden Virtuosen nachvollziehen. Nicht zuletzt dokumentieren die Einträge die sich gegenseitig anfachende Kommunikationspraxis als Sonderform eines Frage-Antwort-Spiels, denn oft finden sich mehrere Inhalte derselben Lieferanten bezugnehmend auf eigene oder fremde Beiträge. Geist und Witz der „Schreiber“ schimmern durch und eröffnen völlig neue Perspektiven auf die eine oder andere Persönlichkeit. Moscheles lieferte Fanny Mendelssohn (Hensel) beispielsweise ein Albumblatt für ein Gesangsduett, das auf den Kopf gestellt werden konnte, um daraus die 2. Stimme zu generieren. Jedes Album ist also auch immer ein Beweis für die Individualität seines Besitzers!
Abschließend lässt sich resümieren, dass hier thematisch eine musikwissenschaftliche Neuheit vorliegt, die Maßstäbe setzen dürfte: induktiver Ansatz bei gleichzeitig perspektivischer Offenheit, Stringenz der Argumentation und überzeugend in den Ergebnissen.
Begleitend zum Buch ist eine CD-Aufnahme zu Studienzwecken entstanden. Die Einspielung präsentiert Albumblätter von Ignaz Moscheles mit Klavierkompositionen und Liedern, die in Kapitel 3.9 des Buches umfassend diskutiert werden. Die CD ist auf Nachfrage verfügbar über: moschelescd-aufnahme@yahoo.com

Claudia Niebel
Stuttgart 4.12.2020

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