Jan Reetze: Times & Sounds. Germany’s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond [Manfred Miersch]

Jan Reetze: Times & Sounds. Germany’s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond. – Bremen: Halvmall, 2020. – 536 S.: 42 S/W-Abb.
ISBN 978-3-9822100-0-1 : € 24,99 (Hc)

„Wirklich Hochwertiges und auch heute noch Peinlichkeitsfreies innerhalb des Krautrocks lässt sich an zwei Händen abzählen.“ schrieb Martin Büsser 1996 im Magazin testcard (Martin Büsser: Wo ist Kraut, Mama? in testcard. Beiträge zur Popgeschichte 2 -  Oppenheim: Testcard, 1996, S. 18). Eine Seite vorher liest man dort ein Zitat von Richard H. Kirk von der Band Cabaret Voltaire: „Die ganze englische Industrial-Bewegung war von Can, Cluster und Kraftwerk mehr als nur inspiriert – sie waren davon durchdrungen.“ (Ebd., S. 17)
Wie geht das zusammen und wie kommt es, dass ein Genre, in dem es an Hochwertigem offenbar zu mangeln scheint, so zum Mythos werden konnte, dass z.B. noch Jahrzehnte später in angesagten Szene-Stadtvierteln Berlins kleine Start-Up-Textildruckereien T-Shirts mit einem Plattencovermotiv von Can bedrucken (Future Days) und sie mit Erfolg verkaufen?
Liegt dem bloße Nostalgie zugrunde oder liegt es an einer seit drei Jahrzehnten andauernden Stagnation, die eine Sehnsucht weckt nach einer Zeit des Aufbruchs, der Hoffnungen und der freien Experimente, repräsentiert durch Produkte, die in dieser Zeit zu finden sind? „We have to bemoan the stagnacy of new ideas and styles (…)“ wird mit Blick auf unsere Gegenwart gegen Ende des Buches treffend festgestellt (S. 491).
Auf Seite 400 wird rückblickend resümiert: „German musicians only had the choice of continuing to copy (and maybe adapting) the music they heard from U.S. or U.K. bands, or to find other sources they could absorb. They could also try to forget all this, pave their own path, and invent something completely new (…).“ Das taten etliche Krautrocker, auch wenn sie eine derartige namentliche Etikettierung meist vehement ablehnten.
„Krautrock became a synonym for things to be found rarely in the mother countries of rock: strange sounds, sometimes endless ramblings and musical anarchy, ignoring the rules of the music industry, but also innovation of man kinds, radicalness, and intransigence.“ (S. 15).
Das englischsprachige Buch versteht sich als Reise durch vergangene Zeitabschnitte der Musikgeschichte. Wer dabei an Bernward Vespers berühmten Romanessay Die Reise denken mag, liegt nicht ganz falsch, denn auch hier geht es zentral um Ereignisse, die ihren Nährboden wohl nur in Westdeutschland und auf der Insel Westberlin finden konnten: „This book is about West Germany and West Berlin“ schreibt Reetze in der Einleitung (S. 16). Dem entsprechend endet die Reise um 1990.
Krautrock ist dabei nur der zentrale Hauptbahnhof, aber bei weitem nicht die einzige Station. Los geht es vor ca. 100 Jahren, von den 1920ern über die Nazizeit hinaus und hinein ins Wirtschaftswunder und die wundersame Welt der Schlagermusik und den „Early Jazz“ (S. 42) und die Beatmusik „made in Germany“.
Von da aus ist es noch ein Stück Weg und etliche Buchseiten weit, bis in den Garten Sandosa (was das ist, wird hier jetzt nicht verraten …).
Der Inhalt des Buches ist anhand von Dekaden geordnet. Dem Vorwort von Hans-Joachim Roedelius und besagter Einleitung folgt „The Beginning“ und anschließend „The Sixties“, „The Seventies“, „The Eighties“, „The Future“ und „The End“. Innerhalb dieser übergeordneten Struktur gibt es chronologisch bedingte Abfolgen und thematische Kapitel (z.B. „Studios and Producers“, S. 243) oder kurze Exkurse, wie z.b. „First German Rock Bands“ (S. 78).
Auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern des Hardcover-Buchblocks befinden sich Infografiken. Die vordere Grafik zeigt eine schematische Landkarte der alten Bundesrepublik, der DDR und Berlins, inkl. einer Timeline mit wichtigen politischen Geschehnissen und Angaben zur Bevölkerungszahl verschiedener Jahre. Die hintere Grafik zeigt eine sehr nützliche „Map of Krautrock“ mit Angaben zum Standort der Bands. Eine kleinere Grafik klärt darüber auf, wann wie viele Schallplatten des Genres im Zeitraum von 1969 bis 1974 auf den Markt kamen.
Die Timeline der politischen Geschehnisse deutet an, dass es beim Thema nicht nur um rein musikalische Belange geht, sondern: „[...] you will learn a lot about Germany´s cultural, political, and everyday background as well.“ (S. 9). Die deutsche Geschichte, der gesellschaftliche Kontext, diese bilden in dem Buch sozusagen das konstruktive Gerüst, an dem die Erzählung festgemacht ist. In diesem Sinne werden z.B. hinsichtlich der Haltung der Musiker Parallelen zur Lebensreformbewegung der 1920er Jahre gezogen (ein interessanter Aspekt, der, wenn man die äußere Erscheinung der Protagonisten aus den 20er- und 70er-Jahren vergleicht, sofort überzeugend wirkt).
Reetzes Buch möchte diverse Aspekte, die zur Konstruktion des Mythos beitrugen, kritisch hinterfragen, z.B. die Legende, dass die vielfältigen Stilblüten, die im Krautrock gediehen, quasi aus dem Nichts gewachsen sind, gänzlich traditionslos hervorgegangen aus einem durch den zweiten Weltkrieg entstandenen leeren Raum. Wie Reetze darlegt, war dies nicht so. Auch wenn es um Biographien von Protagonisten der Szene geht, wird einiges klargestellt, z.B. beim in Fachkreisen berühmten Studioleiter Conny Plank (S. 256). Ziemlich atemberaubend ist, mit welchen Details (und Namenslisten) der Autor aufwarten kann, wenn es um die oft sehr verwobenen Biografien von Musikgruppen unterschiedlichster populärer Genres geht und das zugehörige Netzwerk von Produzenten, Komponisten, Labels und Veranstaltern.
Der Autor beschreibt, wie sich Ende der 1960er-Jahre Formen und Inhalte im Musikbussiness verändern und wertet die Anpassung einiger deutscher Plattenfirmen an die neuen Hörgewohnheiten und Bedürfnisse als „starting line“ (S. 130, S. 150 ff.) für den musikalischen Aufbruch des Krautrock. Das Format der Single ist obsolet und es beginnt der Siegeszug des „Albums“, der Langspielplatte. Währenddessen beginnt in der BRD das Vorspiel zum langen „Deutschen Herbst“ und die (Foto-)Alben auf den Polizeirevieren füllen sich in den kommenden Jahren mit Bildern junger Leute, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben haben. Andere hatten sich in dieser neuen Zeit des Aufbruchs der Filmproduktion oder der Bildenden Kunst verschrieben, oder den „freien Tönen“, wie es der Westberliner „Intermedia“-Performer CONrad Schnitzler nannte.
„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht“, hieß es in einem bekannten Stück aus den 1980er-Jahren von der auf S. 454 des Buches erwähnten Band Fehlfarben. Auf der Reise über die 1960er-, 1970er-, 1980er bis zum Ende von Times & Sounds gibt es für den Leser wahrlich keine Atempause! [Für Leserinnen (oder korrekt die Lesenden) auch nicht.]
Zu den im Buch erwähnten Bands des Krautrock-Genres, angefangen mit Amon Düül (II) und Can, wird Insiderwissen präsentiert, das in anderen Büchern bislang nicht zu finden war. Der steinige Weg vom Amateurmusiker zum Profimusiker, in einer Zeit in der es hierzulande kein wirklich professionelles Management und keinen Verleih für Equipment gab, wird sehr anschaulich beschrieben, die Einkommenslage würde man heute als „prekär“ bezeichnen.
Die tiefen Einblicke in die Mechanismen der Musikindustrie sind spannend zu lesen, ebenso wie die Darstellung der Entwicklung der elektronischen Musik und der zunehmenden Verwendung des Synthesizers.
Durch die im Text erwähnten Platten entsteht leicht der Wunsch, die lange nicht mehr gehörten Vinylscheiben mal wieder erklingen zu lassen und sich an den zeitgeistigen Covertexten und Layouts zu erfreuen. Auf mp3-Dateien im Netz sollte man nur im absoluten Notfall zugreifen, die Qualität ist immer schlechter als das Original [behauptet der Rez. aus eigener Erfahrung].
Die Erkenntnis stellt sich beim Hören ein: eine Produktion wie z.B. Music for Meditation von Eberhard Schoener (1973 bei Ariola erschienen) oder Hymnen von Karlheinz Stockhausen (1969 bei Deutsche Grammophon) würde heute, wo die Quote regiert und der Bildungsgedanke keine Rolle mehr spielt, kein vergleichbar großes Label mehr zu veröffentlichen wagen. Da is‘ leider nix mit „Offenheit und Toleranz“ und „bunter Vielfalt“.
Englischsprachige Bücher zum Thema Krautrock gibt es längst, was durch die Begeisterung britischer Musiker und Fans für das Genre begründet sein mag. Hier nur zwei Beispiele:
Julian Copes KrautRockSampler von HeadHeritage (1995) präsentierte One Head´s Guide To The GROSSE KOSMISCHE MUSIK in der Art eines Fanzines, d.h. mit dem Blick eines obsessiven Fans, dem es mehr darum ging, seinen Enthusiasmus (und nicht so sehr darum, klar verifizierte Fakten) zu vermitteln.
Das Krautrock-Buch von black dog publishing (Cosmic Rock and its Legacy, 2009) glänzt mit vielen Hochglanzfotos und besteht vorrangig aus Portraits der Bands. In anderen Büchern wird die „German Scene“ der Krautrocker als wichtiger Bestandteil in ein übergeordnetes Ganzes eingebettet, als Beispiel sei hier Mark Prendergasts The Ambient Century genannt, From Mahler to Moby – The Evolution of Sound in the Electronic Age (Bloomsbury, 2000).
Der Fall, daß ein in Deutschland geborener und in den USA lebender Autor das popkulturelle Phänomen Krautrock aus der gegebenen geografischen Distanz betrachtet, ist schon sehr viel seltener. Der in Detroit/USA lebende Autor Alexander Simmeth hatte 2016 mit seinem Buch Krautrock transnational – Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968 – 1978 ein deutschsprachiges Buch vorgelegt, das einen neuen Maßstab gesetzt hat, an dem sich Reetzes Times & Sounds messen lassen muß. In beiden Büchern geht es um eine Einordnung des Phänomens Krautrock in die Kulturgeschichte der BRD, und beide Bücher basieren auf akribischer Recherche und gehen auch auf das Umfeld ein, die Rezeption in den Medien, die Musikindustrie etc.
Was unterscheidet Reetzes Buch also abgesehen von der englischen Sprache, dem erweiterten Zeitkontext und Untersuchungsfeld und dem größeren Umfang an Seiten von Simmeths Buch?
Die zentrale Antwort gibt Jan Reetze selbst gleich zu Beginn: „This book is not a part of the current pile of ‚retro‘ books [...]“, „It´s made for you to read, not for earning me a degree.“ (S. 10). Da liegt‘s: Dr. Simmeth sei sein durch Krautrock transnational erlangter Grad und Titel gegönnt; frei von akademische Normen gelingt es Jan Reetze allerdings einen mächtigen Trumpf auszuspielen, indem er zwanglos und subjektiv aus ganz persönlicher Position schreibt, auch über sehr familiäre Dinge, als jemand, der in der Kernzeit des Krautrock im richtigen Alter war, um die Szene und den Zeitkontext vor Ort mit zu erleben. Kurze anekdotische Erlebnisberichte wie „And what did Yours Truly do in the 1970s?“ (S. 208) wird man in keiner Dissertation finden (was der Buchautor in den 1980ern tat, liest man später, S. 445 ff.). Sie bereichern und komplettieren das Gesamtbild. Ein Gesamtbild, das von Krautrock dominiert wird, das aber auch vorzügliche und kenntnisreiche Darstellungen zum deutschen Schlager, zum Jazz und dem Aufkommen der Neuen Deutschen Welle enthält.

Fazit: Times & Sounds ist ein Paradebeispiel für spannenden Journalismus, für kritische Subjektivität und der Vermittlung von teils wenig bekannten Fakten zur deutschen Geschichte, gepaart mit wissenschaftlich anmutender Recherchesorgfalt, und einer Prise Ironie, die die Krautsuppe erst so richtig schmackhaft macht.
Dieses Buch ist nicht nur den Touristen zu empfehlen, die in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg T-Shirts mit einem Plattencovermotiv von Can kaufen (s.o.), sondern allen Menschen, die wissen wollen, wie in einer Zeit, in der es noch Utopien gab, hierzulande ein popkulturelles Pflänzchen gedeihen konnte, das bis heute die seltsamsten Ableger erzeugt.
Man muß kein native speaker sein, um den Text zu verstehen, grundlegende Englischkenntnisse reichen. Zu bestellen ist Times & Sounds über die Verlagswebsite.

Manfred Miersch
Berlin, 06.11.2020

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