Oliver Buslau: Feuer im Elysium [Andreas Vollberg]

Oliver Buslau: Feuer im Elysium. Kriminalroman – Köln: Emons, 2019. – 495 S.
ISBN 978-3-7408-0616-3 : € 22,00 (geb.)

Das Beethoven-Fieber zum Jubeljahr 2020 packt Musikliteraten jeder Couleur. Der Menge nach überwiegt die Sach- und Fachliteratur mit aktuellen Perspektiven und Wiederveröffentlichungen. Einige Schätze präsentiert auch die Romanwelt. Und eine besonders glückliche Synthese kündigt sich an, wo sich musikwissenschaftliche Expertise und belletristisches Know-how zusammenfinden. So gelangte der frühere EMI Classics-Texter und Verlagsredakteur Oliver Buslau neben produktivem Output an Klassik-Kompendien, Programmheftbeiträgen und breit aufgestelltem Musikjournalismus seit 2000 zu einer zweiten Domäne: dem Kriminalroman. Allein zehnmal schickte er den Privatdetektiv Remigius Rott auf Verbrecherjagd durch Wuppertal. Weitere Stories lassen auch die Welt der klassischen Musik, zumal im Rheinland, mit einem Gift der Engel oder dem Vampir von Melaten eiskalt erschauern.
Nun also der Bonner Ludwig van Beethoven (1770-1827). Ein turbulenter Charakter war er bekanntlich schon am Rhein. Aber wenn’s um ihn gleich kriminell zugehen soll, ist seine Wahlheimat Wien biographisch angesagter. Schadlos bleibt der Meister ohnehin. Aber sein Umfeld? Seine Förderer und Verehrer? Seine Kontrahenten in Kunst und Politik? Hier gilt es Reales, Mögliches und Erfundenes zu unterscheiden, zugleich in ein organisches Ganzes zu verweben und – hier ein besonderer Lesereiz – fließende Übergänge zwischen den Realitätsschichten zu finden. In brisanter Mischung aus Fiktion und Fakt sind Buslaus Helden und Protagonisten samt Familien und Entourage nahezu reine Phantasieprodukte. Aus den Tatsachen dagegen speist sich der zeit- und kulturgeschichtliche Background: das Wien der restaurativen Metternich-Ära, darin die Musikszene um den real wie auch im fingierten Szenario persönlich agierenden Beethoven. Magnet und Fluchtpunkt des Geschehens und damit diverser politischer und ästhetischer Richtungskämpfe ist die bevorstehende Uraufführung der Neunten 1824.
Die jedoch liegt 50 Jahre zurück, als der niederösterreichische Schlossherr Sebastian Reiser bei Romanbeginn die Violinübungen seines Enkels durch die Gänge schallen hört. Der berichtet dem Großvater aus Berlin, wo er bei Joseph Joachim studiert, dass Beethovens letzte Sinfonie gerade stark im Gespräch sei. Er kenne aber auch das Familiengerücht, laut dem der Großvater, einst selbst ein ambitionierter Amateurmusiker, bei der Uraufführung mitgewirkt und den Meister persönlich gekannt habe. Endlich wolle er die volle Wahrheit erfahren. Verständnisvoll kommt der alte Herr dem Bitten nach, präsentiert sogar einen originalen Dankbrief Beethovens und mahnt, man werde Zeit brauchen. Und welch verwickeltes dramatisches Geschehen sich hinter Reisers 1824-er Episode verbirgt, erfährt der Junge eine geschlagene Nacht lang am Kaminfeuer – der von gleicher Neugier infizierte Leser analog von Seite 12 bis ans Ende des zweiten Rahmenteils auf Seite 489.
1824 also steht Sebastian Reiser in Diensten des fortschrittlichen und human eingestellten Edlen von Sonnberg auf dessen Schloss in Niederösterreich. Sein vom Edlen finanziertes Jura-Studium in Wien blieb nach dessen Willen ohne Abschluss. Reisers Wissen, Praxis und Loyalität genügen, um ihn eines Tages als Nachfolger seines Vaters ins Amt des Verwalters zu übernehmen. Auch sonst winkt manches Glück: Zwar unstandesgemäß und heimlich, aber leidenschaftlich erwidert liebt er Theresia, die Tochter seines Herrn. Gemeinsam musizieren sie vorzugsweise Beethoven. Unerwartet signalisiert die Angebetete, in Kürze habe er eine gute Nachricht zu erwarten. Da wendet sich das Schicksal mit aller Härte: Vor Sebastians Augen reißt es den Edlen und seinen Verwalter, die via Kutsche auf Inspektionsfahrt sind, von einer einstürzenden Holzbrücke in den Abgrund. An einen Unfall wird Sebastian nicht mehr glauben können. Dann der zweite Schock: Leopold von Sonnberg, Cousin des Verunglückten und als sein Nachfolger ein Despot sondergleichen, verweist ihn rigoros des Schlosses. Unter die Arme greift ihm der gutmütige Wiener Baron von Walseregg, ein enger Freund des alten Edlen, und nimmt ihn unter hilfreichen Empfehlungen mit in die Donaumetropole, wo Sebastian ja noch aus Studienzeiten auf juristische und musikalische Kontakte zurückgreifen könnte. Nicht nur mit der Stellensuche hat Sebastian nun alle Hände voll zu tun. Zugleich beschäftigt ihn eine Notiz, die er in einem Geheimfach seines Vaters gefunden hat: Diesen und einen Dr. Scheiderbauer treffe keine Schuld an dem, was Beethoven geschehen sei. Gibt es hier sogar eine Verbindung zum tödlichen Unglück des Vaters? Sebastian ermittelt auf eigene Faust (und Gefahr). Dank Recherchen in Wiener Adressbüchern findet er Dr. Scheiderbauer in der Vorstadt Weißgerber. Vielsagend spielt der Arzt auf Beethovens fortgeschrittene Taubheit an und presst, plötzlich erdolcht von meuchelnder Hand, im letzten Atemzug noch einige kryptische Andeutungen hervor – zumindest ein neuer Anhaltspunkt.
Für eine neue Existenzgrundlage reaktiviert Reiser zwei alte Bekanntschaften. Zunächst ist es der historisch verbürgte Ferdinand Piringer, den Buslau seinem Helden fiktiv als ehemaligen Geigenlehrer zueignet. Mitwirkender in der bevorstehenden Akademie im Kärntnertortheater (mit der Uraufführung der Neunten unter Michael Umlauf), nimmt er den Ex-Eleven in seine Obhut, konfrontiert ihn mit der bahnbrechenden Gedankenwelt des epochalen Werks und dessen freiheitlichem Verbrüderungstraum, bringt Sebastian sogar als Bratschist im Akademie-Orchester unter. Für eine Anstellung im Staatsdienst setzt Sebastian auf seinen alten Jura-Kommilitonen Gregorius Hänsel, seines Zeichens Hofkonzipist und führender Drahtzieher im Moloch von Metternichs allmächtigem Spitzel- und Überwachungssystem. Dessen Ideologen sehen dem mutmaßlich subversiven Beethoven-Ereignis, das nur durch Vermittlung liberaler Adliger vom Zensoren-Papst Sedlnitzky genehmigt wurde, mit Argwohn entgegen. Da kommt Sebastian als Verbindungsmann nicht ungelegen. Nicht der geborene „Konfident“, hofft er dennoch, mit Hilfe einer gesicherten Stellung weiterhin erfolgreich um die Hand Theresias anhalten zu können.
Doch bevor all dies im Rückblick auf 1824 zu prallem Leben erwacht, hat längst eine parallele, alternierend erzählte Lunte Flammen geschlagen: Der wegen rebellischer Umtriebe gesuchte Student Theodor Kreutz logiert in Nürnberg bei seinem todkranken Freund Wellendorf. Dieser erhielt eine obskure Einladung zu einer Zusammenkunft der sogenannten „Unsichtbaren“. Kreutz wittert ein weit effektiveres Netzwerk revolutionärer Zellen, als er es aus verbotenen Burschenschaften wie den Gießener Schwarzen kennt, und schleust sich nach Wellendorfs Ableben unter dessen Namen in die Rekrutierung des anonym organisierten Zirkels ein. Statt über den Sturz der Feudalherrschaft diskutiert man hier seltsamerweise permanent schöngeistige Streitfragen wie Bach vs. Beethoven. Auch dieses Personal hat Wien zum Reiseziel und verbleibt dort angekommen in strengem arrestähnlichem Gewahrsam. Kreutz, Freund des radikal demokratischen Vormärz-Schriftstellers Karl Follen und Verehrer des zur Ikone stilisierten Kotzebue-Mörders Carl Ludwig Sand, nimmt Reißaus und forscht nach früheren Bundesgenossen. Auf einer abenteuerlichen Odyssee verdichten sich Indizien eines bevorstehenden Coups, der Buslau zum titelgebenden Feuer im sprichwörtlichen Elysium aus der Ode An die Freude inspirierte – bei Beethoven vokaler Schlusssatz der Neunten, textlich ein Produkt des vor Ort kurz zuvor noch strikt verbotenen Revoluzzers Schiller.
So weit die Roman-Exposition. Die Durchführung: bizarr, poetisch und großzügig ausgestattet mit Unverhofftem, Überraschendem, Skurrilem und Atmosphärischem. Im Personaltableau ferner aktiv: Franz Schubert, Beethovens Neffe Karl, Adlatus Anton Schindler, die Geliebte Josephine von Brunsvick, der Gönner Fürst Karl Lichnowsky.
Kommt auch der Fan des klassischen Kriminalromans „netto“ auf seine Kosten, so summiert sich brutto eine bemerkenswert changierende Palette narrativer Idiome zu einer farbkräftigen Mixtur. Typisierte Charaktere bleiben nie ohne Nuancen und Zwischentöne. Reiser etwa tendiert selbst in ehrerbietigen Einlassungen zu Renitenz und Distanzverlust. Kunstgriffe des Musiker- und Künstlerromans stehen obenan, wenn in Reisers Gedanken wiederholt – mehrfach variiert an der Neunten – musikalische Strukturen in hermeneutische Sphären transzendiert sind: mal metaphorisch, mal allegorisch, bis hin zu ethischen Imperativen und Beethovens humanitären Visionen. Beethovens Kollegen widmet sich Lehrer Piringer in handfester Rossini-Polemik und Sympathien für Webers Freischütz; für eine erzgroteske Genreszene sorgt er mit einem Abend in der Ludlamshöhle, einer trinkfesten Literatenclique, für die Reiser im Initiationsritus en passant die Zwölftontechnik erfindet. Überhaupt scheinen Lokalkolorit und Genius loci passagenweise eine virtuelle Hauptrolle zu markieren. Reichlich minutiös erstreckt sich die Topographie von architektonischen Details über Straßenzüge und winzige Gasserln bis zu breit ausgemalten Landschaftsarealen in den Wiener Bezirken dies- und jenseits von Bastei, umrandendem Glacis, Vorstädten und bewachter Linie außenherum. Politische Geschichte im engeren Sinn (Vorgeschichte mit Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen) kann sachlich rekapituliert daherkommen. Auch kann sie sich – mit Fokus auf sozialer Problematik und Sittenbildern (Armut, Ständegesellschaft, psychisch Kranke) – in beklemmenden Milieuskizzen von Possierlichkeiten in bis heute mahnende Exempel steigern. Wie die Abläufe und inneren Monologe oft mit irritierenden Umwegen und unverhofften Ruhepunkten überraschen, kommt es auch im Dialogischen gern zu ausgedehnter Erörterung und Paraphrase. Trotz oder wegen der großenteils mehr epischen als reißenden Erzähltempi bleibt der Leser mit Spannung am Ball. Und dies – so viel sei verraten – nicht vergeblich. Und was blieb und bleibt von der Neunten? Siehe hierzu Buslaus Fazit im Nachwort.

Andreas Vollberg
Köln, 08.03.2020

 

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