Ali Bachtyar: Die Stadt der weißen Musiker [Karo Degk]

Bachtyar Ali: Die Stadt der weißen Musiker. Roman / Aus dem Kurdischen (Sorani) übers. von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. – Zürich: Unionsverlag 2017. – 426 S.
ISBN 9-783-293-005-204 : € 35,00  (geb.; auch als E-Book)

Es gibt Bücher, deren Sprache so schön ist, dass jeder Satz unweigerlich die Traurigkeit nach sich zieht, ihn nie wieder zum allerersten Mal lesen zu können. Und es gibt Bücher, die lassen das bohrende Unbehagen zurück, sie niemals ganz erfassen zu können, da hinter dem Erzählten ein ganzes Universum an nichterzähltem Eigentlichem steht. Der Roman Der letzte Granatapfel (Unionsverlag Zürich 2002) des 1966 im irakischen Kurdistan geborenen, seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland lebenden Dichters Bachtyar Ali hat das Zeug zu beidem: Hinter der in üppig blühender, rätselhaft wuchernder Wortmagie entfalteten Erzählung lauert die Geschichte seiner kurdischen Heimat mit all ihrer unentwirrbaren Komplexität, all der unerzählbaren Grausamkeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Mit diesem sprachgewaltigen Erstling wurde Ali in Deutschland zum „wohl bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller und Poeten des autonomen irakischen Kurdistan“ – einem „Autor, dessen Ecken, Kanten und erzählerische Verrücktheiten von keinem Literaturbetrieb abgeschliffen worden sind, und der sich um die Erwartungen und Lesegewohnheiten zumal des westlichen Publikums nicht schert“, wie es in einer Rezension von Stefan Weidner heißt.
Auch in seinem zweiten in deutscher Übersetzung erschienenen Roman, Die Stadt der weißen Musiker, sorgt Ali sich nicht um Literaturbetrieb, Wissenschaft oder Käuferschar. Die in die Tiefendimension seines Romans eingebaute Geschichte seiner Heimat wird nicht faktisch nacherzählt. Denn Bachtyar Ali geht es (wie er seinen Alter-Ego-Erzähler Ali Sharafiar sagen lässt und es in Interviews auch selbst betont) nicht um Wahrheit, sondern um Schönheit. Der Magische Realismus seines Romans lässt sich daher auch ohne realpolitische Konkretionen lesen: als eine Fabulierkunst, wie sie in den Märchen von 1001 Nacht oder in den Büchern von Rafik Schami als verbale Sehnsuchtserfahrung nachvollzogen werden können. Aber sein Schreiben voll Absurdität, Poesie und Traurigkeit fleht zugleich geradezu darum, unter der schönen Oberfläche die Wirren des global so nahen, geistesgeschichtlich so fernen Orients wahrzunehmen und gegen das Vergessen anzulesen. Hilfestellungen dafür gibt weder der Autor noch der Verlag: Diese Aufgabe muss der Leser selbst leisten.
Die oft in apodiktischem Stakkato vorangetriebene äußere Handlung um den Musiker Dschaladati Kotr wird von Kotr selbst und von dem fiktiven Ich-Erzähler Ali Sharafiar (dessen Vorname nicht zufällig mit dem Nachnamen des realen Autors identisch ist) erzählt und gedeutet. Kotr, der bereits als Kind mit seinem Flötenspiel die Menschen wie in Trance fallen lässt, taumelt als tumber Tor wie fremdbestimmt durch sein Leben und durch den Roman. Mit seiner Flöte zieht der Halbwüchsige durch ein scheinbar imaginäres, im Laufe des Buches aber immer realer werdendes Land von Krieg, Gewalt und Korruption, entkommt als einziger Überlebender einem Massaker, wird von seinem Mörder, einem hochrangigen Militär, in die seltsam ortlose Stadt der Bordelle gebracht, wo er seine wahre Musik verlernen und zur Unterhaltung spielen muss. Dort verliebt er sich in eine Frau mit vielen Geheimnissen. Krieg, trügerischer Frieden und wieder Krieg überrollen die beiden, trennen sie und führen Kotr in eine nordirakische Flüchtlingsunterkunft, wo er erneut mit seinem Mörder zusammenkommt, mit dem ihn eine traurige Sympathie verbindet. Auf der Suche nach weiteren Opfern dieses Mannes und ihren Angehörigen erfährt Kotr von unvorstellbaren Grausamkeiten (die offenbar keine literarische Fiktion sind). Nachdem zehn Betroffene dem Schuldigen eine Art informellen Prozess gemacht haben, beginnt für Kotr eine zweijährige Odyssee durch kurdische Gefängnisse, in denen er gefoltert und schließlich ermordet wird. Jetzt stellt sich heraus, dass die titelgebende Stadt der weißen Musiker ein jenseitiger Ort ist: der Ort der getöteten Schönheit. „Im Übrigen ist der Mensch selbst die größte und reinste ermordete Schönheit [...]. Niemals ist Schönheit so gründlich getötet worden wie in den letzten fünfzehn Jahren. Hier warten Tausende darauf, dass du ihre Rufe hörbar machst“ (S. 283). Kotr wird zum Mittler zwischen den Welten, zum Boten, der die ermordete Schönheit und damit die Wahrheit über die Ermordeten in die Welt zurückbringt und durch seine Musik und seine durch den Schriftsteller Sharafiar aufgezeichnete Geschichte Zeugnis ablegt.
Was hat das nun mit Musik zu tun? Die Namen Mozart, Beethoven, Tschaikowsky kommen vor, teils mit irritierender Präzision, teils als fremde, unbegreifliche Folie (immerhin befinden wir uns in einem Orient, in dem westliche Musik de facto ausgegrenzt bleibt). Wenn Kotr selbst spielt, dann spielt er jedoch keine europäische Musik, sondern die Berge, den Wind und das Geräusch des Regens: „Jeder Regentropfen hat seinen eigenen Klang, jedes Geräusch berührt auf seine Art, [...] ihr müsst zu hören lernen, dass Regen überall anders klingt. Den Unterschied der Geräusche hören und die Ungleichheit schmecken. Musik ist, die Ungleichheiten zu schmecken“ (S. 23).
Eine solche elementare, mystisch allumfassende Musik der Ungleichheit scheint auch Bachtyar Alis Sprache zu durchdringen: Ali erzählt in einer wundersamen Mischung aus distanzierter Berichtsprosa, unfassbaren poetischen Spracheruptionen, tiefer Weisheit und banalen Einsprengseln. In das Innenleben der Figuren, ihre Motive und Handlungsimpulse gewährt er nur soweit Einblicke, als die Gestalten in diesem bunten Erzählteppich es durch ihre Personenrede zulassen. Emotionen, Charakterzeichnungen, Handlungslogik und sogar die Kausalität und die Zeit werden immer wieder außer Kraft gesetzt. Mit sonderbarer Hellsicht weiß hier zwar jeder, was kommen wird, versucht aber gar nicht erst, sein Los zu verändern. Wie Schlafwandler treiben die Personen dahin … und ziehen den Leser in diesen eigentümlichen Somnambulismus mit hinein. Jenseits aller verbalen Verzauberung verhüllt Bachtyar Alis Poetik kaum, dass seine Prosa eigentlich einen Albtraum abbildet, der auf zeitgeschichtlichen Fakten basiert. Dem Leser bleibt die bange Erkenntnis, dass das Gespinst der schönen Wörter wie eine spiegelnde Scheibe funktioniert: Der Kulturfremde erkennt nur die kunstvoll ziselierte Oberfläche, aber er ahnt dahinter die historisch allzu nahen Fakten über ein bitteres Land, das bei Bachtyar Ali von Kapitel zu Kapitel deutlicher als reales politisches Gebilde lokalisierbar wird. Letztlich legt er damit ein traurigmachendes Buch vor, dessen sprachliche Schönheit nichts anderes ist als der verhallende Klang eines Requiems auf die Opfer der unendlichen sinnlosen Bestialitäten der Gegenwart. Bachtyar Alis literarisches Epitaph für die mehr als 180.000 Kurden, die Saddam Hussein im iranisch-irakischen Krieg ermorden oder lebendig begraben ließ, zeigt den kurdischen Genozid als ein Beispiel von vielen, und Gut und Böse sind weder im Roman noch in der Wirklichkeit klar auseinanderzuhalten.
Im Grenzfeld zwischen Dichtung und Wirklichkeit bleiben Sätze wie diese: „Du fragst: ‚Warum sollen wir im Krieg Musik studieren?‘ Du fragst: ‚Was sind wir schon, drei kleine Flötisten, was können wir gegen die gesammelte Gewalt schon ausrichten?‘ Ich hatte einen Lehrer, der glaubte, Musik könne die Toten wieder zum Leben erwecken. [...] Wenn du nur für die Lebenden spielst, wirf deine Flöte weg und geh nach Hause“ (S. 34 f.). Und wie gern möchten wir Bachtyas Alis Credo teilen, das da heißt: „Ich glaube an Schönheit. Der Mensch kann nicht gerecht sein, aber er kann Schönheit erschaffen. Die größte Rache an den Ungerechtigkeiten der Welt ist, dass der Mensch ein Poet wird, Musik spielt, Gemälde malte, vor denen wir staunen stehen bleiben“ (S. 147) …

Karo Degk
Jena, 20.08.2018

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