Misha Aster: Staatsoper. Die bewegte Geschichte der Berliner Lindenoper im 20. Jahrhundert [Peter Sommeregger]

Aster, Misha: Staatsoper. Die bewegte Geschichte der Berliner Lindenoper im 20. Jahrhundert. / Aus d. Engl. von Martin Richter – München: Siedler, 2017. – 544 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-8275-0102-8 : € 28,00 (geb.; auch als e-book)

Pünktlich zum Wiedereinzug der Berliner Staatsoper in ihr Stammhaus unter den Linden nach siebenjähriger Bauzeit, die nicht zuletzt eklatanten Fehlern in Planung und Ausführung geschuldet ist, legt Misha Aster ein umfangreiches Werk über diese ehrwürdige Institution vor. Wer allerdings meint, es hier mit einer Chronik künstlerischer Höhepunkte des letzten Jahrhunderts zu tun zu haben, sieht sich schnell enttäuscht. Schon in seinem Vorwort legt der Autor dar, dass sein Ansatz ein gänzlich anderer ist. Er nimmt den Begriff „Staatsoper“ beim Wort und fokussiert seine Darstellung der Geschichte des Hauses auf die repräsentative Aufgabe und Rolle eines Staatstheaters während der wechselnden Staatsformen des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Eine negative Überraschung erlebt der Leser schon im ersten Kapitel. Das 20. Jahrhundert scheint für Aster erst mit der Revolution und Ausrufung der Republik 1918 zu beginnen. Damit unterschlägt er einen nicht unwesentlichen Teil der jüngeren Geschichte des Hauses. Kaiser Wilhelm II. war ein großer Liebhaber der Oper und übte nicht geringen Einfluss auf Spielplangestaltung und Engagements von SängerInnen „seiner“ Hofoper aus. So beraubt der Autor sein Buch, dessen Kapitel nach Opernzitaten benannt sind, gleichsam der Ouvertüre.
Aster neigt in der Beurteilung von Persönlichkeiten zur Erzeugung von Feindbildern. Im ersten Kapitel schießt er sich nachhaltig auf den Komponisten und Dirigenten Richard Strauss ein, dem er dessen unzweifelhaft vorhandene Geschäftstüchtigkeit vorwirft, was aber in Anbetracht von Strauss‘ künstlerischem Rang eindeutig zu kurz greift. Breit, sehr breit legt Aster bürokratische Vorgänge in der Leitung des Hauses dar. Dem Autor standen viele Dokumente und Archivalien erstmalig zur Verfügung, auf die frühere Chronisten des Hauses noch nicht zurückgreifen konnten, er nutzt diesen Vorteil aber vielleicht ein wenig zu umfangreich. Das Buch nimmt streckenweise den Charakter einer wissenschaftlichen Stoffsammlung an, was auf den Leser zunehmend ermüdend , zum Teil auch überfordernd wirkt. Speziell in den Kapiteln, welche die beiden totalitären Regimes auf deutschem Boden behandeln, beleuchtet Aster die politischen Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die Staatsoper im Wortsinn erschöpfend. Ein Großteil der Leser hätte sich hier wohl ein stärkeres Eingehen auf das Künstlerische gewünscht. Verdienstvoll ist die akribische Aufarbeitung der politischen Hintergründe aber allemal, zukünftig Forschenden wird damit eine wertvolle Quelle erschlossen. Nicht zuletzt die Rolle des wendigen, mehreren Regimes in Folge dienenden Heinz Tietjen wird eingehend beleuchtet. Auch die Kapitel, die sich mit der DDR und ihrer Ideologie befassen, sind ausgezeichnet recherchiert und geschrieben, lesen sich über weite Strecken aber mehr wie eine Geschichte der DDR, als ihrer Staatsoper. In seiner an sich lobenswerten Gründlichkeit verliert der Autor immer wieder den Sinn für Proportionen.
Aster beschließt sein Buch mit einem Kapitel über die Wendezeit und einer kurzen Zusammenfassung. Hier greift er ein wenig zu kurz, denn 1991 beginnt mit der Verpflichtung Daniel Barenboims eine, inzwischen ad infinitum andauernde neue Ära der Staatsoper, die keineswegs nur wohlwollend gesehen wird. Im Jahr 2010 wird das Haus für eine gründliche Sanierung geschlossen, die aufgrund maßlos übersteigerter Vorgaben zu einem Desaster, Dauer und Kosten betreffend, ausufert. Verständlich, dass Aster Barenboim, dem er zu Dank verpflichtet ist, und der zu dem Buch ein Vorwort beigesteuert hat, nicht kritisch beurteilen will, aber die nicht sonderlich ruhmreichen Jahre zwischen 1991 und der Jahrtausendwende sind inzwischen auch Teil der Geschichte des Hauses. Asters 20. Jahrhundert dauert also nur gut 70 Jahre.
Der Kanadier Aster hat sein Buch in englischer Sprache geschrieben, die deutsche Übersetzung hat Martin Richter besorgt. Dass die Übersetzung vor einer englischen Ausgabe erscheint, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass der angelsächsische Markt für ein Buch dieser Art problematisch ist.
Bei allen Kritikpunkten hat das Werk auch durchaus seine Meriten, speziell die Akribie, mit der Aster sein Thema auslotet, ist beeindruckend. Schade nur, dass es insgesamt ein reichlich zäher Lesestoff ist. Erschwert wird die Lektüre noch zusätzlich durch einen sehr engen Satz und einen zu kleinen Schriftgrad. Ein Buch mehr für Historiker als für Musik- und Opernliebhaber.

Peter Sommeregger
Berlin, 26.12.2017

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