Musiktheorie von der Antike bis zur Gegenwart [Peter Sühring]

Musiktheorie von der Antike bis zur Gegenwart / Hrsg. von Ulrich Scheideler und Felix Wörner – Kassel: Bärenreiter, 2017. – 550 S.: Notenbsp. (Lexikon Schriften über Musik ; 1)
ISBN 978-3-7618-2032-2 : € 99,00 (geb.)

Keiner weiß genau zu sagen, was Musiktheorie ist und wie sie sich von Musikwissenschaft im Allgemeinen und deren systematischem Teil im Besonderen unterscheidet; gelehrt wird sie sinnigerweise kaum im Rahmen der universitären Musikwissenschaft, sondern in der Regel an den Musikhochschulen, vielleicht weil man Angst hat, die in Ausbildung befindlichen praktischen Musiker könnten sich zu wenig um die Theorie der Musik kümmern. Schlecht bekommen ist der Musiktheorie diese Nähe zur Musikpraxis nicht. In dem groß angelegten historischen Überblick über die europäische Musiktheorie von der Antike bis zur Gegenwart, den der vorliegende Band lexikalisch geben will, fällt allerdings auf, wie wenig praktische Musiker, z. B. Komponisten, sich an dem theoretischen Diskurs über Musik, über Tonsysteme und Kompositionstechniken beteiligt haben. Musiktheorie scheint also eher ein Metier von Theoretikern zu sein, die sich systematische Gedanken machen über das, was praktische Musiker so treiben.
Wenn aber die physikalisch-physiologische Basis der Musik und die naturwissenschaftlich orientierte Konstruktion von Tonsystemen und der in diesem Rahmen stattfindende Vollzug von Kompositionstechniken in Hinsicht auf Melodiebildung, Harmonik und Rhythmus das Thema der Musiktheorie sein soll, so fragt man sich, warum ausgerechnet hier, im Gegensatz zur den geplanten Bänden über Musikästhetik, die außereuropäischen Theorien über Tonsysteme wie wir sie aus den wissenschaftlichen Systemen der alten Araber, Perser, Inder und Chinesen kennen, nicht behandelt worden sind.
Auch hätte man erwägen können, ob nicht eine chronologische Anordnung der Autoren und Schriften besser als die hier gewählte alphabetische gewesen wäre, um so die Entwicklungen der sich wandelnden thematischen Schwerpunkte und das Band zwischen den Theoretiker-Genrationen (ihr Pro und Contra bestimmte Thesen und Lösungsversuche) besser aufzeigen und veranschaulichen zu können. Relativ anschaulich wird auch schon durch kursorische Lektüre einzelner Artikel, was in der Musik Naturgesetze, was Kunstgesetze und v.a. Kunstfreiheiten sind. Zwar scheint Musiktheorie sich in Regelwerken zu erschöpfen, aber immer wieder scheint auch auf, dass Musik als Tonkunst künstlerische Konstruktivität und Erfindungsgeist erheischt.
Die Idee einer lexiographischen Erfassung der musiktheoretischen Probleme durch Artikel zu den Schriften einzelner Autoren ist plausibel und gewinnbringend, die innere Gliederung der Beiträge (zunächst kurze quellenkundliche Absätze zu den Lebensdaten des Autors, dem Titel, dem Erscheinungsort- und-jahr, zu Textart, Umfang und Sprache sowie zur Art der Quelle und ihren Drucken, dann längere Absätze zur biographisch-historischen Einordnung sowie drei stets wiederkehrende Hauptabsätze, die betitelt sind mit Zum Inhalt, Kommentar und der bibliographische Beschluss Literatur) erschließt die Schriften präzise nach ihren positiven Aussagen sowie ihrer historischen Relevanz.
Im Kommentar wie in den bibliografischen Hinweisen hätten die Pionierleistungen für die Wiederentdeckung, Edierung, Übersetzung und Kommentierung antiker und mittelalterlicher Autoren und gelehrter Schriften, die es in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gab, mehr oder überhaupt berücksichtigt werden können. Das betrifft beispielsweise im Falle des Franco von Köln die Arbeiten von Heinrich Bellermann (1874/77) und Oswald Koller (1890), im Falle des Wilhelm von Hiersau die Arbeit von Hans Müller (1883), im Falle des Hermann von Reichenau die Arbeiten von Gustav Jacobsthal (1872/2001), Wilhelm Brambach (1884) und Philipp Spitta (1886).
Konzeption und Realisierung des Lexikons durch international herangezogene Autor(inn)en erbringen einen ausbeutbaren und für verschiedene Zwecke nützlichen Fundus an Wissen und offenen Problemstellungen, der am besten dadurch ausgeschöpft würde, dass eine weit verbreitete Nutzung dieses Handbuchs zum Einstieg in detaillierte Auseinandersetzungen vonseiten der Musiker und Musikgelehrten führen würde.

Peter Sühring
Bornheim, 22.11.2017

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