Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Musik? Zur Geschichte und Problematik eines ’deutschen’ Musikdiskurses / Hrsg. von Stefan Keym [Peter Sühring]

Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Musik? Zur Geschichte und Problematik eines ’deutschen’ Musikdiskurses / Hrsg. von Stefan Keym – Hildesheim: Olms, 2015. – VIII, 247 S.: Notenbeisp. (Studien zur Geschichte der Musiktheorie ; 12)
ISBN 978-3-487-15295-0 : € 38,00 (brosch.)

Der vorliegende Sammelband mit Beiträgen zu einem Symposium im Rahmen einer Jahrestagung der deutschen musikforschenden Gesellschaft widmet sich endlich mit der gebotenen Vorsicht und Reflexionsschärfe einem unter deutschen Musikern, Musikwissenschaftlern und -liebhabern weit verbreiteten Überlegenheits-Anspruch, wenn es um die Fällung von Werturteilen über die Qualität komponierter Musik geht. Das in deutscher Komponiertradition übliche und allein für qualitätsstiftend gehaltene Verarbeiten von Themen und Motiven soll und hierin wird das dünkelhafte Wesen dieses Anspruchs deutlich – universelle Gültigkeit besitzen und zum Beurteilen jeglicher Tonkunst als maßgebliches oder ausschließliches Kriterium taugen. Die Schieflage dieser Sichtweise kommt auch im Titel des Buches zum Ausdruck. Der innerdeutsche Musikdiskurs über thematisch-motivische Arbeit, der sich an Werken deutscher Komponisten, v.a. seit Bach entfaltete, soll eben nicht nur der Inbegriff jener in Deutschland geschriebenen Musik sein, sondern von Musik im allgemeinen. Nicht nur die Wirksamkeit eines protestantischen Arbeitsethos hat in Deutschland dieses nationale Spezifikum hervorgebracht. Selbst ein dieser Tradition unverdächtiger Komponist wie Wolfgang Mozart sprach in der Widmung von sechs Streichquartetten an Joseph Haydn davon, sie seien die „Frucht einer langen und mühevollen Arbeit“, um sich der von Haydn gesetzten kompositorischen Standards würdig zu erweisen. Immer wieder hat Mozart in seine Werken kontrapunktische Kunststücke eingearbeitet oder versteckt (für den ungeschulten Hörer fast unhörbar), um damit den Kenner zu überraschen, zu befriedigen und auch ein bisschen zu foppen: Ja, wenn Ihr meint, dass das so wichtig ist, da habt Ihrs, ich kann’s so perfekt und superlativisch, dass Euch die Ohren davon schlackern sollen.
Unbestritten ist, dass in allen vier Himmelsrichtungen außerhalb Deutschlands, also auch in den romanischen, nordischen und slawischen Ländern, lange schon mit Themen und Motiven gearbeitet wurde. Die Durchführung eines Fugenthemas in Italien seit dem 17. Jahrhundert, die métamorphose oder das développement von Motiven im Verlauf einer Komposition in Frankreich, die Verwandlungen vorgegebener musikalischer Gedanken und Erfindungen aller Art gehörten seit Jahrhunderten zum Handwerkszeug jedes europäischen Tonsetzers. Aber erst die Übertragung von Durchführungstechniken aus der Fuge in eine neu zu bildende Form eines mehrteiligen Tonstücks, einer Sonate, scheint das besonders für Deutschland spezifische Entwicklungsmoment gewesen zu sein, in dessen Folge in einer deutschen Sonatenform die Durchführung zum Ort geistiger Arbeit mit den gefundenen Themen und Motiven werden sollte. Ein hörbares Fortschreiten von klingender Unversehrtheit der Themen in Konzerten Vivaldis, Bachs oder Händels bis zu einer feinsinnigen Zerstückelung und Weiterentwicklung der Motive wurde als fortschrittliches Komponieren innerhalb der Sonate propagiert, dem man zu folgen hatte, wollte man bei Publikum und Kritik Lob ernten.
Stefan Keym kann anhand der Leipziger Musikpresse im 19. Jahrhundert den streitbaren Prozess der Durchsetzung dieses neuen und immer stolzer und unerbittlicher werdenden Qualitätskriteriums verfolgen und zitatreich illustrieren. Rührend wie einem meisterhaften Komponisten wie Dvořák gnädig zugestanden wird, auch er verstünde etwas von motivischer Arbeit, sie sei ihm sogar „angeboren“. Gibt es etwa, sagen wir, bei George Onslow keine Arbeit an Themen und Motiven, folgt er etwa nicht einer langen romanischen Tradition der Metamorphose von Themen? Aber selbst wenn es, wie gerne behauptet, bei ihm nur so klänge wie bei Beethoven, es aber kein Beethoven, d.h. nicht so „gearbeitet“ wie bei Beethoven sei, was macht dann die unbestreitbare Qualität dieser Musik aus? Liegt sie etwa jenseits von variierender Wiederholung in der Motivik? Es ist zwar ein großer Vorteil der Beiträge dieses Bandes, die Alleingültigkeit des deutschen Wertarbeitspostulats für jedwede Musik zu relativieren oder zu bestreiten, es mangelt aber noch an der Entwicklung alternativer Beschreibungskriterien für eine nicht im deutschen Sinne gearbeitete Musik. Zudem kann Keym durch seine kommentierte Zitat-Sammlung aus dem Leipziger Musikdiskurs im 19. Jahrhundert nachweisen, dass die eigentliche mit dem Begriff der thematisch-motivischen Arbeit verbundene Anmaßung oder Verklärung ein Produkt erst des 20. Jahrhunderts war. Einige Beiträge (Andreas Jacob, Nikolaus Urbanek, Michael Polth) kreisen dann auch um die von Schönberg, Dahlhaus und Adorno gesetzten Axiome, denen die Musik der Vergangenheit mit ihren Leuchttürmen Bach, Beethoven und Brahms nachträglich gehorchen soll oder eben als minderwertig verworfen wird.
Die noch unentschiedenen und ambivalenten Verhältnisse im 19. Jahrhundert werden von Marion Recknagel am Beispiel der Kompositionslehre von Johann Christian Lobe, von Petra Weber anhand des Verhältnisses von motivisch-thematischer Arbeit und poetischer Idee bei Beethoven, von Arne Stollberg anhand von Wagners orchestralem Gewebe geschildert. Deutsch-französische Missverständnisse werden von Marc Rigaudière und Inga Mai Groote aufgefächert. Nach dem durchaus einführend zu verstehenden Beitrag von Hans Joachim Hinrichsen fragt man sich allerdings, ob auf deutscher Seite nicht noch eine weitere Besonderheit hinzukommt, die die Diskussion kompliziert macht, nämlich die fast unmerkliche Verknüpfung eines unglücklich gewählten Ausdrucks für reine Instrumentalmusik, des von Dahlhaus überstrapazierten Begriffs einer „absoluten Musik“ mit dem von „Bedeutung“, die einer Musik injiziert oder aufgepfropft wird, damit sie mit angeblicher Bestimmtheit außermusikalische Ideen ausdrücken könne. Mehr noch das diffus Bedeutungsvolle als das Arbeitsmäßige, beides aber miteinander verwoben, macht den deutschen, zugleich provinziellen wie universell sich dünkenden Musikdiskurs aus, an dessen Stelle auch in Deutschland langsam eine lebendige Vielfalt historischer und moderner Musikverständnisse treten sollte. Was an vorher notwendiger Abrechnung mit dem bornierten deutschen Standpunkt geleistet werden muss, ist hier schon mal auf bestem Wege.
Inhaltsverzeichnis

Peter Sühring
Bornheim, 07.10.2017

Dieser Beitrag wurde unter Bach, Johann Sebastian (1685-1750), Beethoven, Ludwig van (1770-1827), Dahlhaus, Carl (1928-1989), Dvořák, Antonín (1841-1904), Haydn, Joseph (1732-1809), Mozart, Wolfgang Amadé (1756-1791), Onslow, George (1784-1853), Rezension abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

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