Martin Zenck: Pierre Boulez [Markus Bandur]

Zenck, Martin: Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde. – Paderborn: Wilhelm Fink, 2017. – 840 S.: s/w- und farbige Abb., Bibliographie, Werk- und Personenreg.
ISBN 978-3-7705-5998-5 : € 89,00 (geb.)

Der am 5. Januar 2016 verstorbene Pierre Boulez ist zweifellos eine Ausnahmeerscheinung unter den Komponisten der Musik nach 1950. So gehört er wie Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und John Cage zu den Komponisten, deren Werke schon bald nach 1950 in den Rang von Klassikern des Repertoires erhoben wurden. Darüber hinaus machte er sich als Dirigent und Orchestererzieher einen Namen, prägte die heutige Wahrnehmung von Klang und Struktur in der neuen Musik nach 1900 nachhaltig und beeinflußte die Proben- und Dirigierpraxis im Bereich der Avantgarde. Kaum weniger bedeutend war sein Wirken als charismatischer Pädagoge und Theoretiker, ohne dessen Schriften sich die Entwicklung der Musik nach 1945 kaum adäquat nachvollziehen lässt, sowie seine machtvolle Position im kulturellen Leben Frankreichs, ohne die solche Einrichtungen wie das IRCAM oder die Cité de la Musique in Paris wohl kaum realisiert worden wären. Umso erstaunlicher ist es, dass Boulez in Deutschland, wo er lange und bis zu seinem Tod seinen Hauptwohnsitz hatte, bislang nur selten mit einer umfassenden monographischen Darstellung gewürdigt wurde. Zum einen mag das sicherlich zusammenhängen mit der vorherrschenden Konzentration auf die komplexen kompositionstechnischen Probleme, die die Thematik der fachwissenschaftlichen Arbeiten bestimmt und andere Herangehensweisen an Werk und Schaffen von Boulez weitgehend verdrängt hat. Zum anderen liegt die Schwierigkeit darin, das weit abgesteckte, aber zusammenhängende Feld von Boulez’ kompositorischem, interpretatorischem, pädagogischem, theoretischem und politischem Wirken auf einen Nenner zu bringen und die Einzelelemente nicht lediglich als unverbunden nebeneinander stehende Schaffensbereiche zu verstehen. Insofern ist es erfreulich, dass nun mit Martin Zencks umfangreicher Schrift eine Auseinandersetzung mit Boulez zu beginnen scheint, die weniger von den kompositionstechnischen Fragestellungen ihren Ausgang nimmt, sondern auch anderen Blickrichtungen ihr Recht einräumt.
Ausgehend von einem einleitenden Kapitel, das die Person Boulez anhand von exemplarischen Situationen, Begriffen und Konfliktsituationen schlaglichtartig zu umreißen sucht, folgen zwei „Grundlegung“ genannte Teile, die sich der Musik sowohl über kompositionsgenetische Fragen als auch über die Herangehensweise durch eine – bedauerlicherweise weitgehend ergebnislose – Höranalyse nähern. In den folgenden vier zentralen Hauptabschnitten werden anschließend jeweils unterschiedliche Bereiche berührt, wobei die einzelnen Unterpunkte aber durch die leitenden Schlagworte „Theatralität“, „Körperlichkeit“, „Intermedialität von Bild und Musik“ sowie „Virtueller und nicht-euklidischer Raum“ homogenisiert werden. Dadurch rücken zahlreiche Aspekte des Boulez’schen Gesamtschaffens in den Blick, die sonst häufig zu kurz kommen oder aufgrund fehlender Kenntnisse des intellektuellen Geschehens in Frankreich vielfach ausgeblendet werden. Auch wenn dabei einzelne Bereiche der Studie noch unentfaltet, unausgearbeitet und nur oberflächlich behandelt wirken, ist doch durchaus erkennbar, dass Zencks Herangehensweise von einer jahrelangen großen Begeisterung und Sympathie getragen ist, die erst diesen Versuch einer Durchdringung des umfangreichen Wirkens von Boulez ermöglicht hat.
Das Werk ist aus vielen Einzelbeobachtungen und auch -texten zusammengesetzt – der Autor weist seine Texte im Literaturverzeichnis auf über zwei Seiten nach – und sollte deshalb auch eher abschnitts- und kapitelweise rezipiert werden. Bei einer linearen und zusammenhängenden Lektüre fallen demgegenüber zahlreiche Doppelungen und auch Uneinheitlichkeiten in formaler Hinsicht auf, zudem wäre manchmal eine Kürzung von Vorteil gewesen. Weitaus ärgerlicher ist allerdings eine – auch vom Verlag mitzuverantwortende – Schlampigkeit, die weit über die vielen Druckfehler und fehlerhaften Seitenverweise hinausgeht; so begegnet etwa der Name der Pianistin Chen Pi-hsien (Nachname, Vorname) binnen nur weniger Zeilen auf S. 135 in drei verschiedenen Schreibweisen (Pi-Hsien Chen, Pi-hsien, Pi-Shien Chen), fehlt aber – wohl der Einfachheit halber – gänzlich im Register. Solche Schnitzer sind mit einem eingesparten Lektorat nicht zu entschuldigen und mit 89 Euro viel zu teuer bezahlt.
Inhaltsverzeichnis

Markus Bandur
Berlin, 18.09.2017

 

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