Konstellationen. Symposium Felix Mendelssohn und die deutsche Musikkultur [Peter Sühring]

Konstellationen. Symposium Felix Mendelssohn und die deutsche Musikkultur. Ausstellung Felix Mendelssohn und Johannes Brahms / Hrsg. von Wolfgang Sandberger – München: edition text und kritik, 2015. – 141 S.: Abb., Notenbsp. (Veröffentlichungen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck ; 7)
ISBN 978-3-86916-458-8 : € 19,90 (kt.)

Immer noch wünschens- und begrüßenswert sind Bücher, die kompositorische und kulturgeschichtliche Sachverhalte gegen eine verkehrte Rezeption einer der wichtigsten Personen im deutschen Musikleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Felix Mendelssohn es war, ins Feld führen. Zumal solche Sachverhalte, die bisher gänzlich unbekannt oder nur verzerrt dargestellt waren und in der Lage sein könnten, hartnäckige Vorurteile gegen Mendelssohn zu entkräften. Die zum Teil schändlichen, judenfeindlich und kulturpolitisch motivierten oder aus Werturteilen einer anmaßenden Musikästhetik hervorgegangenen Fehlurteile sind offensichtlich noch lange nicht tiefgehend genug widerlegt. Die im Titel dieses auf eine Lübecker Tagung zurückgehenden Sammelbandes und Ausstellungskatalogs gemeinten Konstellationen betreffen die Rolle Mendelssohns innerhalb der deutschen Musikkultur sowie das Verhältnis von Johannes Brahms zu Mendelssohn. Robert Schumann bleibt als Dritter oder mittleres Glied im Bunde hier nur schemenhaft, war aber als Repräsentant einer Kunstströmung jenseits der Klischees von Klassik und Romantik ein unerlässliches Bindeglied zwischen den beiden Polen Mendelssohn und Brahms.
Wenn man über Mendelssohn und die deutsche Musikkultur sprechen will, sollte man zuallererst feststellen, dass eine deutsche Musikkultur ohne Mendelssohn gar nicht denkbar wäre, ja, dass sie in der historisch real ausgeprägten Form ohne sein Wirken als mächtiges Triebrad gar nicht existiert hätte und bis heute nicht existieren würde. In seinem Vorwort versucht der Veranstalter und Herausgeber Wolfgang Sandberger der Ausgrenzung und Verunglimpfung, die Mendelssohn erleiden musste, entgegenzuwirken, indem er ihn quasi heimholt in diese deutsche Musikkultur. Er tut dies so, als wäre sie die einzige gewesen, in der ein Mendelssohn hätte gedeihen können, für die er sich wegen ihrer einzigartigen Qualität in Europa entschieden habe. Die zeitweilige Euphorie Mendelssohns für Deutschland (vor allem unmittelbar nach seiner Enttäuschung von den musikalischen Zuständen im damaligen Italien), wich bei ihm aber ziemlich schnell einer eher pragmatischen Sicht der Dinge. Seine intensive Beziehung zu England ‑ jener Händels und Haydns nicht unähnlich ‑ entwickelte sich zu einer Art zweitem Zentrum für seine kompositorische und musikpraktische Laufbahn.
Angesichts der weiterhin virulenten negativen Bewertungen Mendelssohns, die von typisch deutschen Standpunkten des Überirdischen oder der Innerlichkeit ausgehen, scheint es fast unmöglich (und der Rezensent kennt es aus eigener Erfahrung), unbefangen und ohne apologetischen Tonfall vernünftig über Mendelssohn zu reden. So finden sich in einigen Beiträgen dieses Bandes entweder ein falscher Zungenschlag oder fragwürdige Formulierungen und Darstellungsweisen, über die hier in Form von Einwänden und Fragen gesprochen werden soll.
Laurenz Lütteken bemüht sich, das schier endlose Problem von Mendelssohns angeblichem Klassizismus erneut aufzugreifen und zu lösen. Er neigt zu der Ansicht, Mendelssohns Musik wäre, verstünde man ihren historischen Kontext und ihren ästhetischen Standort recht, weder klassisch oder klassizistisch noch romantisch, sondern irgendetwas dazwischen, wagt aber selbst nicht, diese Alternative wirklich zu behaupten oder näher zu beschreiben. Sein Versuch, Mendelssohns Kompositionsweise in der urbanen Kultur des frühbürgerlichen Berlin zu verankern, leidet unter einer einseitigen Sicht auf Mendelssohns frühe Entwicklung, so als wäre sie nur von der klassizistischen Doktrin des reinen Satzes, wie sie ‑ vermittelt durch Kirnberger ‑ sein Kompositionslehrer Zelter vertrat, abhängig gewesen. Er übergeht die mindestens ebenso große Beeinflussung durch seinen anderen Lehrer Ludwig Berger, ohne dessen etwas weiteren Horizont der junge Felix Mendelssohn seine schon jenseits des reinen Satzes und enger Formschemata liegenden Kammermusiken, Sinfoniesätze und Bühnenmusiken wohl kaum hätte schreiben können. Diesen längeren Prozess auf die Wundertat der Konzertouvertüre zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum des bereits 17‑jährigen Komponisten zu verkürzen, scheint angesichts der Fülle vorangehender stürmisch-drängender Formexperimente nicht akzeptabel. Die Einstellung, sich pathologischer Romantizismen, wie Nietzsche sie empfand, mit klassizistischen Mitteln zu erwehren, ist bei Mendelssohn auch später nicht belegbar, eher der Versuch, diesseits einer avantgardistischen Haltung die musikalischen Formen durch andersartige Motivik von innen her zu erneuern und zu modifizieren. Man müsste dies wohl als den Versuch ansehen, die unheilvolle Dialektik endlich stillzustellen, mit der eine fortschritts- und zukunftsbesessene Kunstideologie eine Synthese aus Altem und Neuem (die zuvor antithetisch gegenübergestellt waren) erzwingen will. Mit rückwärtsgewandter Dankbarkeit der Tradition gegenüber, wie Nietzsche meinte, hat das bei Mendelssohn weniger zu tun. Vielmehr mit künstlerischem Kalkül, Möglichkeiten musikalischer Metamorphosen auszuloten, die sich weder einem fortschrittsgläubigem Optimismus verschreiben, noch einem reaktionären Pessimismus ergeben und insofern gerade typisch undeutsch wären.
Friedrich Geiger nimmt die haltlosen Einwände gegen Mendelssohn geistliche Musik ins Visier, umreißt die zentrale Stellung, die sie in dessen Gesamtwerk einnimmt und erläutert, dass und warum sie als Resultat einer authentischen und ernsthaften Gläubigkeit Mendelsohns gehört werden sollte. Er weist darauf hin, dass Mendelssohn kein Konvertit war, sondern nach seiner (vom agnostischen Vater aus Gründen der Akkulturation an die deutsche Mehrheitskultur veranlassten) christlichen Taufe seine allererste religiöse Erziehung durch den Protestantismus erfuhr. Man braucht nicht, wie judophil eingestellte Menschen es gerne tun, Mendelssohns jüdische Herkunft eifrig positiv zu betonen, sondern kann seine Auseinandersetzung mit und seine Hinwendung zu Themen der mosaischen Religion auch anders herleiten. Zwar kann Geiger die Legende richtigstellen, Mendelssohn sei im reformierten Bekenntnis getauft worden, verkennt aber die Bedeutung, die dessen Konfirmation in eben diesem Bekenntnis für Mendelssohn spätere Haltung zur Kirchenmusik hatte. Man müsste folgende Spezifika des reformierten Bekenntnisses berücksichtigen: der hebräischen Bibel (christlich gesprochen dem Alten Testament) war eine besondere Stellung eingeräumt und als Glaubensinhalte des Neuen Testaments galten nicht einmal die gesamten Evangelien, sondern nur die in ihnen überlieferten Jesus-Worte. Daraus ist gut erklärbar, warum Mendelssohn später in der Lage gewesen ist, für so gut wie alle Konfessionen (für die verschiedenen protestantischen, darunter das lutherische, das französisch-reformierte, das anglikanische, sowie für das katholische und das mosaische Bekenntnis) Kirchenmusik zu liefern. Er konnte sich wegen seiner undogmatischen und toleranten, fast neutral zu nennenden Haltung in Glaubensfragen den jeweiligen liturgischen Riten anpassen, ohne den Kern seiner Frömmigkeit aufzugeben. Geiger kann exemplarisch schon anhand von Mendelssohns erster veröffentlichter Kirchenmusik, seinem op. 23 von 1832, (zweier Neuvertonungen von Luther-Chorälen und einer katholischen Marien-Anrufung in der Mitten) nachweisen, wie authentisch und den jeweiligen kirchenmusikalischen Traditionen entsprechend Mendelssohn operierte und wie es ihm gelang, diese Traditionen kompositionstechnisch zu verknüpfen und damit ihre historische Relativität zu demonstrieren.
Nicht nur von Geiger, sondern auch von anderen Autoren wird des Öfteren behauptet, die Anfeindungen, denen Mendelssohn schon zu Lebzeiten ausgesetzt war, seien antisemitisch gewesen. Irmelin Schwalb geht in ihrem Beitrag über Mendelssohns Schutzsuche im Kreis seiner Familie und seines ausgewählten Freundeskreises sogar so weit, jene ebenso berühmte wie mehrdeutige Briefstelle Zelters an Goethe, dass es etwas Rares wäre, wenn aus einem Judensohne einmal ein Künstler würde, für antisemitisch zu halten. Da Geiger die Propaganda und Verbote der Nationalsozialisten gegen Mendelssohns Musik für eine rassistische Steigerung des in Deutschland weit verbreiteten Antisemitismus hält, ist es angebracht, an folgendes zu erinnern: der seinem Ursprung nach rassistische Antisemitismus in Deutschland ist eine aus der Rassenlehre Wilhelm Marrs erst am Ende der 1870er Jahre entstandene Ideologie, die selbst eine Steigerung der in Deutschland lange und weit verbreiteten, christlich oder profankulturell motivierten Judenfeindlichkeit war. Zelter und andere Zeitgenossen Mendelssohns sollte man schon deswegen nicht als antisemitisch bezeichnen, weil es die Rassenlehren, auf denen der spätere Antisemitismus beruht, noch gar nicht gab. Sich mit der nicht-rassistischen, sondern christlich und kulturell motivierten Judenfeindschaft in der deutschen Gesellschaft früherer Jahrhunderte zu beschäftigen, wäre auch in Zusammenhang mit Mendelssohn viel aufschlussreicher als alle historischen Formen der Judenfeindlichkeit über den Kamm des Antisemitismus zu scheren.
Irmelin Schwalb hatte in ihrem Lübecker Vortrag die reizvolle Idee, ihre Darstellung des Leipziger und über ganz Europa verstreuten Freundeskreises Mendelssohns, den er sich in Abgrenzung von seinen treuen Berliner Familienbanden aufbaute, unter dem Titel „Leipzig als geistige Lebensform“ vorzutragen (im Anspielung auf Thomas Manns Titel seiner Beschreibung der Stadt Lübeck) und damit ihr eigentliches Thema etwas verkürzt anzukündigen. Dem folgen von Alexander Bastek gewährte Einblicke in die Begabung Mendelssohns als Bildkünstler und zwei Stoffgeschichten zu zwei von Mendelssohn entweder nur ersehnte resp. bevorzugt benutzte musikalischen Gattungen: der Oper und der Konzertouvertüre.
Inga Mai Groote beschreibt Mendelssohns Auseinandersetzung mit deutschen Sagenstoffen auf der Suche nach einem geeigneten Libretto für eine große Oper, die er nach seinen zahlreichen nicht-öffentlichen, aber musikalisch gelungenen Singspielen sowie nach dem öffentlichen Misserfolg seiner Don Quichotte-Oper Die Hochzeit des Camacho im Jahr 1827 noch unbedingt schreiben wollte. Sie kann, auch durch ihren Zugriff auf den damals noch unveröffentlichten, in Lübeck liegenden Briefwechsel zwischen Mendelssohn und seinem Librettisten Emanuel Geibel, einen Einblick in die seit 1845 eröffnete Werkstatt zu diesem Opernprojekt geben, der allerdings nicht klären kann und will, warum aus diesem Projekt nicht mehr wurde als ein dann im Sommer 1847 hergestelltes Fragment des 1. Aktes einer Lorelei-Oper. Einer noch ausstehenden genaueren Untersuchung dieses Opernfragments Mendelssohns wären Grootes Beobachtungen unbedingt zuzuführen.
Lothar Schmidt kann in seinem Beitrag zeigen, wie es Mendelssohn gelang, in seinen vier Konzertouvertüren das ihnen willkürlich angehängte Sonatensatz-Schema zu überwinden und stattdessen in seinen musikalischen Gestaltungen präzise den Texten der Dichter oder dem Verlauf der Märchenhandlung zu folgen: in der Ouvertüre zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum, in jener zu Meeresstille und glückliche Fahrt nach Goethes Gedicht, dann die verschiedenen Varianten des Melusine-Stoffes in jener Ouvertüre, die den Titel trägt Das Märchen von der schönen Melusine (sie kann u.a. auch als eine Reaktion Mendelssohns auf Grillparzer/Kreutzers Melusine-Oper gesehen werden) und in Die Hebriden, in der Sujets von Ossian, Walter Scott und Gustav Droysen ein größere Rolle spielen als bisher geahnt. Andrea Hammes beschreibt ein Korpus von Mendelssohn zu Lebzeiten oder seinem Andenken gewidmeten Kompositionen, die zeigen, wie weit verzweigt dessen Rezeption in Form schöpferischer Auseinandersetzungen mit von ihm geprägten Stilelementen war.
Peter Gülke gelingt es (in seinem hier als Übergang zum Katalogteil des Bandes abgedruckten Festvortrag zur Eröffnung der Ausstellung Mendelssohn und Brahms) auf seine Art, verborgene, gegen den Zeitgeist einer mechanistischen Beschleunigung der Lebensverhältnisse gerichtete Motive aufzudecken in der immer intensiver werdenden Hinwendung von Brahms zu Mendelssohn. Die von Otto Biba vorgestellte Tätigkeit des Autographensammlers Brahms betraf natürlich auch Mendelssohniana, wie überhaupt der Bildteil des Buches offene und unterschwellige Beziehungen oder auch nur Korrespondenzen mit dem Geist und künstlerischen Gewissen Mendelssohns im Wirken von Brahms passend und überzeugend illustrieren kann.
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Peter Sühring
Berlin, 26.09.2016

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