Zwei neue Bücher über Krautrock von Alexander Simmeth und Wolfgang Seidel [Manfred Miersch]

Simmeth, Alexander: Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968–1978. – Bielefeld: transcript, 2016. – 365 S.: 26 S/W- u. 7 F.Abb.
ISBN 978-3-8376-3424-2 : € 34,99 (Hc; auch als e-book)

Seidel, Wolfgang: Wir müssen hier raus! Krautrock, Free Beat, Reeducation
. – Mainz: Ventil, 2016. – 133 S.
ISBN 978-3-95575-052-7 : € 14,00 (Hc)

Der ehemals despektierlich gebrauchte Begriff „Krautrock“ steckt ein Feld ab, in dem sehr verschiedene Musikerpersönlichkeiten und unterschiedlichste musikalische Stile zu finden sind, keinesfalls ausschließlich nur konventionelle Rockmusik.
Das gemeinsame, die Protagonisten verbindende Element (wobei einige von ihnen dem Etikett „Krautrock“ kritisch bis ablehnend gegenüberstehen), ist als Ausgangspunkt das Bedürfnis zum Neubeginn, das bei vielen Musikern des Genres (wobei einige von ihnen dem Etikett „Musiker“ kritisch bis ablehnend gegenüberstehen) mit einer radikalen Neugestaltung tradierter Lebensformen verbunden war. Die Loslösung von musikalischen Vorbildern, vorwiegend aus englischsprachigen Ländern, gelang nicht immer, dennoch entstand in den unterschiedlichen Ausprägungen oftmals eine formal innovative, ideenreiche, rigorose und ausgefallene Musik. Krautrock ist der bis heute bedeutendste und international wirksamste Beitrag deutscher Popmusik, der zahllose Bands und Solokünstler in aller Welt inspiriert hat und der auch von jüngeren Musikhörer/inne/n und Musikmacher/inne/n im gegenwärtigen Geschehen als faszinierendes Phänomen wahrgenommen wird. Seit Jahren erscheinen unterschiedliche Bücher zum Thema. Hier werden zwei Neuerscheinungen vorgestellt, die in ihrer Art sehr gegensätzlich sind, wenngleich sich in der Argumentation ähnliche Aussagen finden.

Vorab: Alexander Simmeths Buch Krautrock transnational wird für lange Zeit das Referenzwerk zum Thema bleiben. Es verdankt sich einer überaus akribischen länderübergreifenden Recherche, die man zu Krautrock noch nicht erlebt hat und die man angesichts des Themenfeldes kontextgemäß und augenzwinkernd als teutonische Gründlichkeit zu bezeichnen geneigt sein könnte.
Simmeth erläutert im Vorwort seiner im Rahmen einer Dissertation entstandenen Publikation, was seine Abhandlung von anderen Krautrock-Büchern unterscheidet: der Verzicht auf Bandgeschichten und Anekdoten und auf allzu Lexikalisches und Enzyklopädisches. Das stimmt: launige Geschichten aus dem Alltag der Bands findet man in anderen Büchern, Simmeth beschränkt sich auf zweckdienliche Fakten, wenn es um die Entwicklung, Wirkung und Wahrnehmung von Gruppen geht (z.B. im dritten Kapitel, ab S. 135, und in Teilen des vierten Kapitels, ab S. 248).
Sein Buch versteht sich als interdisziplinäre Studie, deren Besonderheit und Verdienst laut Verlag darin besteht, dass sie „die historische Popmusikforschung auf eine neue Stufe“ hebt und „die transnationalen Dimensionen deutscher Geschichte auf besondere Weise sichtbar“ macht (Buchrückentext). „Popgeschichte ist dabei, sich als neues Forschungsfeld zu etablieren“ heißt es an gleicher Stelle. Simmeths Gutachter, Detlef Siegfried, hat diesbezüglich wertvolle Vorarbeit geleistet (z.B. mit seinem Buch Sound der Revolte – Studien zur Kulturrevolution um 1968, 2008, Juventa Verlag).
Krautrock Transnational gliedert sich in vier Kapitel. Einleitend wird der Rahmen der Studie abgesteckt, es werden Begrifflichkeiten und die „Formierungsphase“ des Krautrock (S. 17) beschrieben. Die Kapitel 2 – 4 widmen sich chronologisch verschiedenen Zeitabschnitten: dem Ende der 1960er Jahre, den Jahren 1970-74 und der Zeit ab 1975 mit abschließender Einordnung in den zeithistorischen Kontext. Es folgen 26 Seiten mit Literaturangaben, sowie vier Seiten mit Quellenangaben und zwei Seiten mit Auflistungen gesichteter Archive, Bibliotheken und Sammlungen. Es schließen sich an: eine Diskographie, ein Namensregister und das Abbildungsverzeichnis. Dem Autor ging es allerdings nicht darum, ein buntes Bilderbuch zu liefern, sondern systematisch und methodisch darzustellen, wie es den Bands gelang „eigene musikalische Ausdrucksweisen zu entwickeln; sich von den Einflüssen also abzugrenzen, gleichzeitig aber auch auf sie aufzubauen“ (S. 93). Simmeth geht dabei umfassend auf die internationale Rezeption von Krautrock ein und benennt Faktoren, die bis heute zur Wertschätzung des Genres beitragen: „die absolute Neuartigkeit des Sounds, der spezifische Einsatz von Technologie, und eine Kompromisslosigkeit, die keinen Raum für Sentimentalitäten lasse“ (S. 139). Der Autor verfolgt dabei verschiedenste Ansätze zur Annäherung an das Phänomen, „Dabei ist der Kulturtransfer aus den USA und Großbritannien nach Westdeutschland ebenso von Interesse wie die umgekehrte Transferrichtung, für die der Begriff Krautrock überhaupt erst geprägt worden ist (…)“ (S. 29).
Bevor das weite Feld beschritten wird, geht es um Definitionen, wie z.B. um „Unterscheidungsmerkmale der Pop- gegenüber der Populärkultur“ (S. 39), um Counter Culture (S. 43) und die „Popmusik als transnationaler Kommunikationsraum“ (S. 45).
Innerhalb dieses Kommunikationsraumes spielte neue Instrumententechnik eine große Rolle, ab S. 269 liefert Simmeth unter dem Titel „Schwingungen: Instrumente und Tonstudios“ einen umfassenden Überblick und zeigt, wie sich im Zuge der postulierten Neuerfindung der Popmusik auch die Produktionsweisen änderten.
Das Buch ist eine reiche Informationsquelle und nicht nur an Sozial- und Kulturgeschichtler adressiert, man muss nicht Musik- und Kulturwissenschaften studiert haben, um von der Lektüre gefesselt zu sein. Wer auf das Anekdotische nicht verzichten mag, der findet es dann doch, als Fußnote: so wird in Nr. 47 vom dritten Kapitel beispielsweise aus einem Brief Karlheinz Stockhausens zitiert, in dem sich der berühmte Avantgardist der Neuen Musik dafür einsetzt, dass „Damo“ Kenji Suzuki, ekstatischer Sänger der Band CAN, nicht des Landes verwiesen wird.
Das Buch schließt mit einer Betrachtung der Möglichkeiten von „Popgeschichte als Gegenstandsfeld der Zeitgeschichte“ (S. 323) und einer Würdigung der „strukturellen Vielfalt und des implizit transnationalen Charakters des Pop“ (S. 324), was im Falle von Krautrock, trotz des sauerkrautigen Namens, wesentliches Kriterium ist, wie der Autor in seiner faszinierenden Abhandlung zeigt.

Wir müssen hier raus ist der Titel eines Stückes der legendären Berliner Politrocker Ton Steine Scherben, das 1972 auf einer der beiden Schallplatten erschien, die gemeinsam unter dem Titel Keine Macht für Niemand für „20 Mark“ (Coverangabe) in den selbstorganisierten Vertrieb gingen. „Wir sind geboren um frei zu sein“ heißt es u.a. in dem Stück und Wolfgang Seidel war als Schlagzeuger der Band zeitweise ein Teil der Legende. „Frei sein“ wollte man um 1970 herum auch von Konventionen, auf gesellschaftlicher Ebene gelang dies, im Hinblick auf musikalische Konventionen konnte sich Seidel frei machen, wo er sich experimentellen Klängen und der Live-Improvisation zuwandte. Seine bereits frühe Freundschaft zum Berliner Intermediakünstler Conrad Schnitzler, dessen selbsternannter musikalischer Nachlaßverwalter er mittlerweile ist, war für Seidel diesbezüglich prägend. In den zurückliegenden Jahren hat Wolfgang Seidel sich darüber hinaus als genauer Beobachter popkultureller Szenen und damit verbundener Entwicklungen erwiesen und dazu Texte geliefert.
Sein Buch ist stark autobiografisch gefärbt, die persönliche Sicht beschränkt sich nicht nur auf die kursiv gesetzten Passagen, die zur besonderen Kennzeichnung ganz privater Statements des Autors vom übrigen Text separiert sind.
Auch bei Seidel wird auf das Transnationale verwiesen: „Die Musiker [Anm.: des Krautrock] sahen sich als Teil der transnationalen Gegenkultur, die mit der Chiffre »’68« bezeichnet wird.“ (S. 30). Gegen Ende des Buches, auf Seite 128, betont der Autor diesen Aspekt, indem er dem Krautrock konstatiert, er hätte mittlerweile „alles Deutsche abgestreift“.
Dass der Krautrock nicht „für eine nationale Identitätsfindung“ taugt (Seidel, S. 37), hat auch Alexander Simmeth in seinem Buch klargemacht, im Hinblick auf die pophistorische Perspektive insgesamt gäbe es „kaum Gefahr“, dass diese „als Authentifizierungsinstrument nationaler Erinnerungskulturen herhalten“ müsste. (S. 324)
Die deutsche Sprache fand im Krautrock verschiedentlich Verwendung, nicht nur im Hinblick auf die Namen der Bands. Dies war im Bereich Rockmusik eine Neuerung, doch „Im Krautrock spielten Songtexte nur eine untergeordnete Rolle“ schreibt Seidel auf S. 83. Heißt das, dass er seine damalige Band Ton Steine Scherben nicht zu diesem Genre zählt? Schließlich waren die Texte Rio Reisers den jungen Hörern so wichtig, dass die Stücke der Band auf jeder Demo gespielt wurden und Titel wie Keine Macht für Niemand sich quasi in der Umgangssprache verankerten. Auf S. 31 versuchte sich Seidel an einer Definition des Krautrock und schrieb: „Wenn es einen gangbaren Weg gibt zu einer Definition, dann über das Eingebettetsein in das soziale Umfeld und die politischen Diskurse dieser Jahre.“
Die Scherben waren zweifelsfrei dort eingebettet, aber keine Krautrocker?
Henning Dedekind bezeichnete in seinem Krautrock-Buch von 2008 (Krautrock – Underground, LSD und kosmische Kuriere, s. Rezension) die Scherben als „Randerscheinung“ des Genres. Als „Krautrock politisch“ werden dort Ihre Kinder bezeichnet und Floh de Cologne als „Agitkraut“. Bei den Bands Floh de Cologne und Ihre Kinder spielten Songtexte durchaus eine große Rolle. Ebenso bei weniger „politischen“ Bands, wie z.B. Hölderlin, Witthüser & Westrupp und Bröselmaschine. Aber auch dort, wo lediglich mit Mantra-artigen Phrasen gearbeitet wird oder mit dem Vorlesen eines Einkaufszettels, wie z.B. in Stücken der Band FAUST, ist dies als Element unverzichtbar und der Songtext somit gleichberechtigt und nicht der Musik untergeordnet.
Wenn der Autor dem Krautrock bescheinigt, er wäre „sprachlos“ (Überschrift, S. 83), läßt dies vermuten, dass der Free-Jazz-Freund und frühe Politrocker Wolfgang Seidel eher zu den Kritikern des Krautrock-Genres gezählt werden kann. Das radikale Experimentieren mit elektronischen Geräten, bzw. Instrumenten wird von Seidel demgemäß als „Versehen“ herabgewürdigt (S. 42), da den Musikern z.B. mit Synthesizern wie dem EMS Synthi A ja kein (konventionelles) Keyboard mitgeliefert wurde. Das stimmt nicht ganz, da die Firma EMS durchaus zugehörige Keyboards verkaufte und der Synthi AKS verfügte als erweiterte Form des obigen Modells über ein sensorgesteuertes Tastenfeld.
Abmildernd wirkt die Aussage des Autors am Ende des Buches: „Was den radikalen Teil des Krautrock heute noch interessant macht, ist der Versuch, die Utopie einer herrschaftsfreien Welt in der Musik aufscheinen zu lassen.“ (S. 129)
Der Ventil Verlag wirbt für Wir müssen hier raus! mit den Worten „Wolfgang Seidel liefert eine Gegenerzählung zu den inzwischen gängigen Darstellungen des Krautrock.“
Das ist nicht wirklich der Fall, da es mittlerweile etliche Publikationen zum Krautrock-Genre gibt, die gleichermaßen zwischen dem subjektiv Erlebtem des Autors oder der interviewten Protagonisten und dem Versuch einer kritischen Analyse von Popkultur und Gesellschaftskontext oszillieren (Beispiel: Der Klang der Revolte – Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground von Christoph Wagner, 2013, s. Rezension). Was Seidels Schilderungen persönlicher Erfahrungen im Deutschland der 1950er und -60er Jahre betrifft, da finden sich ganz ähnliche Berichte in Wolfgang Flürs biografischem Buch KRAFTWERK – Ich war ein Roboter (Hannibal Verlag, 1999). Verständlich, denn Flür ist nur zwei Jahre älter als der 1949 geborene Seidel.
Was Seidel gegenüber anderen Autoren, wie z.B. Gerhard Augustin, ein selbsternannter Pate des Krautrock (Buchtitel, 2005), auszeichnet, ist: Seidel liefert als Zeitzeuge keine verkappte Selbstdarstellung, sondern eine flott und amüsant geschriebene Schilderung, die auf eigener Beobachtung und guter Kenntnis beruht.
Abgesehen davon geht es in dem Buch (erfreulicherweise) um viel mehr als nur Krautrock und man könnte mutmaßen, dass der Verlag diesen Aspekt besonders betont hat, um das Buch von gerade jenem „Krautrock-Hype“ profitieren zu lassen, dem Seidel selbst kritisch gegenübersteht (S. 111). Krautrock wird erst ab S. 29 thematisiert, d.h. nach mehr als einem Fünftel des Buches. Wie schon der Untertitel des Buches besagt, schreibt der Autor auch über „Free Beat“ und „Reeducation“ und bewegt sich, wie in einer Zeitreise, in einem weitgefassten Kontext: es geht u.a. um Heimerziehung bei Kindern und Jugendlichen (S. 17/18), um die „patriarchal strukturierte Familie“ (S. 21), um fehlenden Wohnraum und das Entstehen von Wohngemeinschaften (S. 25 ff.), um Jazz und Free Jazz (S. 73 ff. u. S. 77 ff.), um die ehemals zeitgenössische Literatur, besonders der Gruppe 47 (S. 84 ff.), um Wilhelm Reich und die damalige repressive Sexualmoral (S. 89 ff.), um die Kulturpolitik der Alliierten (S. 91), um die Rolle der Frauen in den Medien und der Musik (S. 112 ff.) und um den Einfluss der bildenden Künste (S. 114 ff.).

Die beiden Bücher von Alexander Simmeth und Wolfgang Seidel bilden ein ungleiches, aber gerade deswegen gutes Paar und sind als Büchergeschenk an Freunde (oder an sich selbst) hiermit ausdrücklich empfohlen.

Manfred Miersch
Berlin, 20.11.2016

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