Jens Rosteck: Brel – der Mann, der eine Insel war [Claudia Niebel]

Rosteck, Jens: Brel – der Mann, der eine Insel war. – Hamburg: Mare, 2016. – 240 S.: Fotos (s/w)
ISBN 978-3-86648-239-5 : € 24,00 (geb.)

Hand aufs Herz: Was fällt Ihnen auf Anhieb zu Jacqes Brel ein? Filme in schwarzweiß von einem Mann mit Schuljungengesicht und schiefen Zähnen, der sich bei seinen Auftritten völlig verausgabt, ein begeistertes bis rasendes Publikum und Chansons wie Ne me quitte pas, Le Port d’Amsterdam, Madeleine oder Le plat pays, die bis heute gespielt werden? Auf YouTube tummeln sich unzählige Originalaufnahmen dieser und anderer Titel neben Cover-Versionen durch bekannte, unbekannte und noch zu entdeckende Künstler. Nina Simone, Ray Charles oder Dusty Springfield haben seine Chansons übersetzt und adaptiert, ebenso Sting und Bob Dylan, Terry Jacks landete mit seiner Version des Liedes Le Moribond (Der Sterbende) den Hit We had joy we had fun we had seasons in the sun, Madonna und David Bowie singen Brel und im deutschen Sprachraum sind es Michael Heltau und Klaus Hoffmann, die sich seiner Werke angenommen haben. Zum 35. Todestag 2013 brachte Universal Music France/Barclay eine Gesamtedition von 21 CDs (!) heraus, eine Intégrale mit sämtlichen Werken, Konzertmitschnitten, Live-Alben, Radioaufnahmen und unveröffentlicht gebliebenen Chansons, Musik für mehrere Tage am Stück oder den Rest des Lebens.
Der Autor der Biografie, Jens Rosteck ist promovierter Musikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt auf der französischen Moderne, Kulturhistoriker und Pianist. Jährliche Aufenthalte auf Ibiza und den Balearen während seiner Kindheit und Jugend haben unter anderem ihren Niederschlag gefunden in einem Inselportät über Ibiza (Mare-Verlag). Die Tatsache, dass er von 2002 bis 2015 in Nizza lebte sorgte en passant für seine Gebrauchsanweisung für Nizza und die Côte d’Azur. Dass sein Werk über Jacques Brel beim Hamburger Mare-Verlag erscheint, ist aber auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich der Porträtierte selbst als leidenschaftlicher Segler ausgezeichnet hat. Und: der Zusatz zum Sachtitel insinuiert geradezu noch andere Deutungen, die in der großartigen Lebensgeschichte (im Wortsinn) durch das Feingefühl der Spurensuche zwingend nahegelegt werden. Rosteck, der sich vor allem als Verfasser literarischer Biografien (auf dieser Website z. B. Edith Piaf, Bob Dylan, Paris – die Stadt und ihre Musik, Hans Werner Henze) einen Namen gemacht hat, erzählt elegant und sprachlich ausgefeilt von einem vielseitig begabten Künstler, der kompromisslos und radikal seine Ziele verfolgt, sich und andere dabei nicht schont und diese Rücksichtslosigkeit letztendlich mit dem Leben bezahlt.
Das Buch beginnt mit seinem legendären Abschiedskonzert im Pariser Olympia im Herbst 1966, als er mit 37 Jahren das Ende seiner Bühnenkarriere einleitet, und klingt aus mit rezeptionsgeschichtlichen Überlegungen und musikhistorischen Deutungen, trotz oder gerade wegen musikalischer und aufführungsspezifischer Schnitzer (Schwierigkeiten bei der Intonation, sonderbare Intervalle, Aussprachebesonderheiten, Spucken – um nur einige zu nennen), die zum Markenzeichen wurden, und erklärt folgerichtig den Einfluss des Sängers bis in die Gegenwart. Brel wird 1929 in Brüssel in eine Industriellenfamilie (Kartonagenfabrik) hineingeboren. Der Vater ist ein disziplinierter Selfmade-Unternehmer, wortkarg und selten zuhause, die Mutter, lebhaft und künstlerisch veranlagt, versucht ihren Kindern Wärme und Geborgenheit zu vermitteln. Brel ist ein schlechter Schüler, plagt sich im Unterricht mit Latein-, Griechisch- oder Mathematikproblemen und flüchtet sich lieber in die Parallelwelt der Literatur. Als leidenschaftlicher Leser (er bevorzugt Robert Louis Stevenson, Hermann Melville, Joseph Conrad, Antoine de Saint-Exupéry und Sartre) findet er schnell Gefallen an der Schülerzeitung, eigene schriftstellerische Versuche und das Engagement im Schülertheater mögen hier seine künstlerische Ambitionen belegen.
Eine kontinuierliche oder gar planvolle Ausbildung in irgendeiner der Bühnenkünste ist seine Sache nicht. Er bleibt in allem Autodidakt: auf dem Klavier oder der Gitarre, auf der Bühne, als Komponist oder als Filmemacher und Texter. Auffallend sind aber in frühester Jugend zum einen der Drang, sich in allem zu verausgaben, an seine Grenzen zu gehen bis hin zum körperlichen Zusammenbruch und zum andern ein extremes Geltungs- und Ausdrucksbedürfnis. Diese Verhaltensmuster werden ihn sein Leben lang begleiten, das in ihm angelegte selbstzerstörerische Ausbeuten der eigenen Ressourcen legt den Verdacht einer Borderline-Erkrankung nahe, ein Begriff, den Rosteck vermeidet, jedoch eine wie auch immer begründete psycho-soziale Störung scheint vorhanden. Brel sieht in der Rückschau seine Kindheit und Jugend aus der Perspektive der Verbitterung und verarbeitet diese Erfahrungen auch in seinen Texten. Sicher ist der Unterricht auf den überwiegend konfessionellen Schulen, die er besuchen muss, pädagogisch und methodisch ausbaufähig, aber die Bewertung schließt auch seine Familie ein, was, wie Rosteck schildert, nicht ganz zutrifft. Der Vater ist ihm ähnlicher, als er zugeben will, denn dieser war als junger Mann nach Afrika aufgebrochen, um dort im Import-Exportgeschäft sein Glück zu machen, was ihm ohne Neugier, ein gute Portion Abenteuerlust und Risikobereitschaft sicher nicht gelungen wäre. Kriegs- und Besatzungszeit übersteht die Familie dank der Kontakte des Vaters weitgehend unbeschadet. Brel geht es im Rückblick, so vermutet man, vielmehr um die Erschaffung eines Mythos.
1947 kann er ins väterliche Unternehmen eintreten, obwohl er die Schule abbricht und auch sonst keinen geeigneten Abschluss vorweisen kann. Er engagiert sich bei den Pfadfindern und sucht Zugang zu politisch und sozial engagierten Kreisen, 1948/49 absolviert er seinen Militärdienst, 1950 heiratet er. Die Familie wird letztendlich um drei Töchter anwachsen, die Ehe bleibt lebenslang bestehen, seine Frau setzt er als Universalerbin ein, auch wenn er im Laufe seines kurzen Lebens mehrere feste Parallelbeziehungen und darüber hinaus zahlreiche Amouren pflegt. Die geradezu bourgeoise Lebensform als Paar mit kleinen Kindern und vorgezeichneter beruflicher Existenz erscheint ihm jedoch immer mehr als Schreckensvorstellung. Seine künstlerischen Ziele verliert er daher nicht aus den Augen, tritt mit seiner Gitarre in kleineren Clubs, Provinztheatern oder Kabaretts auf und knüpft Kontakte zu Musikern und Agenturen. 1953 verlässt er desillusioniert die väterliche Kartonagenfabrik und versucht sich als Chansonnier. Die Familie bleibt in Brüssel zurück, Brel geht nach Paris, wo er sich bessere Chancen ausrechnet. Er lebt in prekären Verhältnissen, Frau und Kinder, die 1955 nachziehen, müssen versorgt werden, obwohl die Anerkennung nach wie vor ausbleibt. Brel wird später davon sprechen, dass er fünf Jahre lang debütiert habe. Er unterzieht sich der sprichwörtlichen Ochsentour durch die Provinz, unternimmt eine Tournee in die französischsprachigen Länder Nordafrikas und erzielt hie und da kleinere Erfolge.
Erst als es ihm gelingt, das Format seiner Aufführungen zu ändern, nehmen sich Agenten seiner an und das Blatt wendet sich: er tauscht seine an eine Mönchskutte erinnernde Kleidung gegen einen Anzug, verändert die Diktion seiner Darbietung als sozialer Mahner, verzichtet weitgehend auf die Gitarre, auf der er sich bislang selbst begleitet und tritt nun mit Berufsmusikern (Akkordeon, Klavier) auf. Seine Lieder lässt er von professionellen Arrangeuren bearbeiten, er selbst kann sich dabei vollkommen auf seinen solistischen Auftritt konzentrieren, eine Art Performance, die er immer mehr perfektioniert. Die Texte, die er – singer-songwriter – ausschließlich selbst verfasst, rekrutieren sich aus biografischen Erfahrungen, handeln von Liebe und Leid oder nehmen Bezug auf politische und gesellschaftliche Missstände. Er beeinflusst nicht nur die Pariser Kunstszene durch die Unmittelbarkeit seiner Konzerte und den direkten Publikumskontakt, indem er die französischste der künstlerischen Ausdrucksformern, das Chanson, zu ungeahnten Höhen führt. Brel kultiviert seinen pubertätsbedingten Widerspruchsgeist und sieht sich als eine Art agent provocateur. Als Hörer und Zuschauer der auf Film gebannten Konzerte ist man fasziniert von seiner Bühnenpräsenz, seiner Darbietungskunst und seiner Hingabe, man anerkennt, dass es sich hier um ehrliche, handgemachte, ursprüngliche und vitale Musik handelt.
Das Leben, das Brel nun führt, nimmt ein atemberaubendes Tempo an. Er komponiert, produziert, konzertiert und nimmt auf, führt eine Künstlerexistenz nach dem Motto „heute hier, morgen dort“ mit mehreren Geliebten und der Familie gleichzeitig. In Spitzenjahren absolviert er mehr als 300 Auftritte pro Jahr, den Stress verarbeitend beim Kettenrauchen, erwirbt den Segelschein, das Kapitänspatent und erlernt das Fliegen, gründet quasi nebenbei einen Verlag, den es heute noch gibt und schafft sich ein weiteres Standbein als Filmemacher und Schauspieler. Dazwischen unternimmt er gleich mehrere Atlantiküberquerungen und ausgedehnte Reisen in die pazifische Inselwelt.
Ein eigentlich vernachlässigenswerter Patzer, ein Textaussetzer während eines Auftritts veranlasst Brel dazu, seinen Rückzug von der Bühne anzutreten und sich musikalisch nur noch dem Radio und der Schallplatte anzuvertrauen. Der exzessive Zigarettenkonsum ist vermutlich der Auslöser für das 1974 diagnostizierte Lungenkarzinom. Die Operation übersteht Brel – und schlägt gleichzeitig alle ärztlichen Anweisungen in den Wind, indem er im ungünstigen Klima Tahitis einen Schiffspendeldienst auf den Weg bringt und Menschen, Güter und Post transportiert. Die erneute Krebstherapie 1978 in Paris überlebt er nicht und stirbt an Herzversagen infolge einer Lungenembolie. Sein Grab befindet sich auf Tahiti in unmittelbarer Nähe desjenigen von Paul Gauguin, den er zeitlebens sehr verehrte. Der Mann, der eine Insel war: ein einsamer Mann, als der er sich im Grunde empfindet – nicht erreichbar, abgeschieden, eine Insel in der Welt des Musikbusiness, ein Monolith in der Brandung, an dem sich andere bis heute abarbeiten. Der Unverstandene, der Außenseiter, der Segler, der Inselbewohner im Pazifik, wo die von ihm verehrten Paul Gauguin und Robert Louis Stevenson ihre letzten Jahre verbrachten.
Rosteck versteht es als Musikwissenschaftler, Frankreichexperte, Kulturhistoriker und Inselspezialist auf unnachahmliche Weise, dieses reiche und zugleich kurze, fassettenreiche Künstlerleben in einen zeit- und musikgeschichtlichen Kontext zu stellen, sprachlich anspruchsvoll und dabei verständlich zu erzählen, fern von jeglicher Redundanz, Besserwisserei oder tiefenpsychologischer Deutung. Ein wunderbares Inselbuch!

Claudia Niebel
Stuttgart, 15.08.2016

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