Beatrix Borchard: Pauline Viardot-Garcia. Fülle des Lebens [Peter Sommeregger]

Borchard, Beatrix: Pauline Viardot-Garcia. Fülle des Lebens.– Köln [u.a.]: Böhlau, 2016. – 439 S.: Abb.; Notenbeisp. (Europäische Komponistinnen ; 9) ISBN 978-3-412-50143-3 : € 34,99 (geb.)

Die Sängerin, Pianistin, Komponistin und Gesangslehrerin Pauline Viardot-Garcia gehört wohl ohne Zweifel zu den interessantesten Persönlichkeiten der europäischen Musikszene der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Tochter des legendären Manuel Garcia d.Ä., Tenor und Schöpfer einer Gesangsmethode, die durch ihn und seinen Sohn Manuel d.J. weite Verbreitung fand, und als Schwester der legendären, früh verstorbenen Maria Malibran war ihr Weg zu einer musikalischen Laufbahn praktisch vorgezeichnet. Ursprünglich strebte sie wohl eine Karriere als Pianistin an, aber nach dem tragischen Tod ihrer älteren Schwester bestimmte die Mutter sie zur Sängerin. Neben ihren wohl eindrucksvollen stimmlichen Mitteln überzeugte sie durch die Intensität ihrer Darstellung und wurde vor allem für ihre Interpretation der Fides in Meyerbeers Prophet (die der Komponist für ihre Stimme schrieb) und des Gluck’schen Orpheus gerühmt. Freundschaften verbanden sie neben Meyerbeer auch noch mit weiteren zeitgenössischen Komponisten wie Gounod und Saint-Saens, die ihr einige ihrer Werke widmeten , welche von ihr kreiert wurden. Eine lebenslange Freundschaft unterhielt sie mit dem russischen Dichter Ivan Turgenev, die wohl nicht ganz zu Unrecht als geglückte menage a trois zwischen Pauline, ihrem Ehemann Louis Viardot und dem Dichter angesehen und als solche gesellschaftlich akzeptiert wurde. Die renommierte Autorin Beatrix Borchard, eine der profiliertesten Vertreterinnen der feministischen Musikwissenschaft widmet diesem wahrhaft reichen Leben nun eine umfangreiche Biographie. Fülle des Lebens trifft den Punkt, gleichzeitig aber auch Fülle, ja Überfülle des Materials, auf das die Autorin zurückgreifen kann. Durch konventionelle Biografik wäre dieses Volumen wohl nur schwer zu bändigen. Nach gerade einmal fünfzig Seiten verlässt die Autorin den konventionellen Weg einer Lebensbeschreibung und splittert Leben, Schaffen und Wirkung Viardots in sogenannte Montagen auf, die auf den Leser aber zunehmend verwirrend wirken. Ist der Pfad einer stringenten Erzählweise erst einmal verlassen, findet man sich in den nachfolgenden Kapiteln zunehmend schwer zurecht. Borchard widmet den Schülerinnen und Enkelschülerinnen der Viardot ein eigenes Kapitel, beschränkt sich bei der Nennung von Namen aber auf die Schülerinnen der ersten Generation. Hier wäre es doch wünschenswert, auch die Namen zumindest der bedeutendsten Enkelschülerinnen zu erfahren. Über Aglaja Orgeni gelangten immerhin Sängerinnen vom Rang einer Edyth Walker, Erika Wedekind und Margarethe Siems zu internationalem Ruhm, um nur die bekanntesten zu nennen. Was noch schwerer wiegt: von den Genannten, aber auch von Marianne Brandt, Lola Beet, Marie Dietrich und Teresa Arkel, also Schülerinnen der ersten Generation existieren aussagekräftige Tondokumente, welche die Technik der Viardot auch akustisch nachvollziehbar machen. Diese Chance für eine Kommentierung nicht zu nutzen, beraubt die sonst so erschöpfende Publikation einer wichtigen Dimension. Befremdlich auch die Knappheit des Kapitels über die Komponistin Viardot. Der Reihentitel Europäische Komponistinnen ließe doch nun erheblich mehr erwarten, als gerade einmal vierzig Seiten, die zudem nur einzelne Werke ihres rund 300 Titel umfassenden Œuvres herausgreifen. Ein deutlicher Hinweis auf das bereits 2012 online erschienene Systematisch-bibliographische Werkverzeichnis (VWV) von Christin Heitmann wäre sinnvoll gewesen. Notwendigerweise selektiv fällt auch die Aufzählung der wichtigsten Korrespondenzen Viardots aus, im Wesentlichen werden die Briefwechsel mit dem Dirigenten und Komponisten Julius Rietz und jene mit Clara Schumann und George Sand behandelt, die in Teilen immer noch einer endgültigen Auswertung harren. Insgesamt scheint dies ein Hauptproblem einer Biographie dieser Künstlerin zu sein: die Fülle des existierenden Materials, das einerseits noch nicht komplett erschlossen ist, sich aber selbst in seinem schon zur Verfügung stehenden Umfang einer Komprimierung auf Wesentliches zu widersetzen scheint. Vielleicht kommt dieses Buch zu früh, durch die von Borchard herausgegebenen Viardot-Studien werden ja noch aktuell einzelne Aspekte dieser Biographie erforscht und dokumentiert. In seiner jetzigen Form ist das Buch zwar eine wertvolle Informationsquelle, kann als Gesamtdarstellung dieses Künstlerlebens aber nicht überzeugen.

Inhaltsverzeichnis

Peter Sommeregger Berlin, 06.07.2016

Dieser Beitrag wurde unter Biographie, Komponistin, Meyerbeer, Giacomo (1791-1864), Rezension, Saint-Saëns, Camille (1835–1921), Schumann, Clara [Wieck] (1819-1896), Viardot, Pauline-Garcia (1821-1910) abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.