Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität [Christoph Zimmermann]

Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität / Hrsg. von der Komischen Oper Berlin (Bettina Brandl-Risi u. Clemens Risi) – Leipzig: Henschel, 2015 – 224 S.: Abb.
ISBN 978-3-89487-780-4 : € 16,95 (kart.)

Die Operette gilt vielfach als Genre für unbedarfte Unterhaltung. Hier und da mucken Theater gegen diese Etikettierung auf, so Dortmund vor Jahren mit Arthur Sullivans Piraten oder jüngst Krefeld/Mönchengladbach mit den Lustigen Nibelungen von Oscar Straus. Diese beiden (und andere) Titel erinnern auch daran, dass die Operette ad eins keine spezifisch deutsch-österreichische Angelegenheit ist und dass ad zwei im Schaffen eines einzigen Komponisten Anspruchsvolles und Biederes gleichermaßen Platz haben kann (so schrieb Straus ja auch einen zuckrigen Walzertraum“). Nicht alles aus dem Operettenbestand dürfte zu revitalisieren sein. Aber man sollte die der Gattung prinzipiell innewohnende gesellschaftskritische Sprengkraft nicht verkennen. Daran hat bereits 1991 Volker Klotz mit Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst erinnert, indem er auch viele Werke aus dem Repertoire-Abseits empfehlend analysierte.
Seit einiger Zeit engagiert sich die Komische Oper Berlin vehement in Sachen Operette. Intendant Barrie Kosky hat sich sogar schon gegen den (falschen) Vorwurf einer Vereinseitigung des Spielplans zur Wehr setzen müssen. Im Zusammenhang mit seiner Erfolgstätigkeit fand Anfang 2015 ein Symposium statt, dessen Beiträge jetzt im Sammelband Kunst der Oberfläche vorliegen. Sie ergeben keine in sich geschlossene Betrachtung des Phänomens Operette, sondern bilden ein lockeres thematisches Kaleidoskop mit teils mehr didaktischen, teils mehr theaterpraktischen Betrachtungen. Um nur die Äußerungen Koskies ins Visier zu nehmen… Der Regisseur, welcher trotz seiner Distanz zu Richard Wagner die nächsten Bayreuther Meistersinger-inszenieren wird, kontrastiert dessen emotionale Schwerlastigkeit mit dem Theater des antiken Griechenland, wo sich zum Ernst der Sujets fast immer ein dionysischer Akzent gesellt, wie er auch die Operette prägt. Das führt bei ihr zu einer mitunter sogar anarchischen Vitalität, die auf der Bühne freilich intelligent herauszuarbeiten ist. Ein Anfang hierfür könnte eine stärkere Berücksichtigung des Oeuvres von Jacques Offenbach sein.
Im übrigen fühlt man sich (allerdings nicht ausschließlich) durch Kosky aufgefordert, die hierzulande immer noch geltende, fatale Unterscheidung von „E“- und „U“-Musik zu überdenken, und mit ihr auch so manche Äußerung eines Theodor W. Adorno. Zu diesem Guru der Musikästhetik gibt es ein eigenes kritisches Kapitel. Gerechterweise ist darauf hinzuweisen, dass in dem Buch vornehmlich die Operette der 20er und 30er Jahre berücksichtigt wird. Danach bewirkte das Dritte Reich eine zerstörerische Zäsur mit lange nachwirkenden, negativen Folgen. Was vor 1933 und danach (als überschaubare Genre-Spätblüte) an Werken entstand, wäre noch einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Manches wird als vielleicht nicht mehr spielbar eingestuft werden müssen. Das spräche der Operette aber nicht generell eine positive Zukunftsperspektive ab. Dazu leistet das vorliegende Buch einen fundamentalen aufmunternden Beitrag.

Christoph Zimmermann
Köln, 28.03.2016

Dieser Beitrag wurde unter Adorno, Theodor W. (1903-1969), Offenbach, Jacques (1819-1880), Operette, Rezension abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.