Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Eine Biographie [Peter Sühring]

Kranefuss Matthias ClaudiusKranefuss, Annelen: Matthias Claudius. Eine Biographie – Hamburg: Hoffmann und Campe 2011, 19 Abb., 320 S.
ISBN 978-3-455-50190-2 :  € 23.00 (geb.)

Bei dem Musikliebhaber und Klavierspieler Matthias Claudius (1740-1815),  der sich bei seinem Verlegerfreund Friedrich Nicolai auch schon mal ganze Partituren von Händel oder Christian Fasch auslieh, tragen nicht nur viele seiner gedichteten Lieder die Sehnsucht nach Musik schon in sich, sondern sie wurden auch von vielen Komponisten im Volksliedton vertont, wie Der Mond ist aufgegangen, das berühmteste aller Abendlieder.Er hatte auch mit mindestens zwei zeitgenössischen Komponisten etwas intensiveren Umgang: mit Carl Philipp Emanuel Bach und mit Johann Friedrich Reichardt – beide waren von den Musikverhältnissen am preußischen Hof enttäuschte frühromantische Musiker. Diese entfernten Bekanntschaften sind zwar nicht mit Claudius’ näheren mit Lessing oder Friedrich Heinrich Jacobi gleichzustellen, sind aber doch charakteristisch für die Bedeutung der Musik im Leben des in Wandsbeck bei Hamburg lebenden und dichtenden Journalisten. Auch diese für die Musikfreunde von heute wichtigste Seite an dem vielseitigen und auch in sich widersprüchlichen Matthias Claudius kommt in dieser ausgewogenen Biografie zur Sprache.
Claudius schlüpfte gerne in die Rolle des „Asmus“, des Boten von Wandsbeck, um seine aufgeklärt-aufklärerischen Artikel und Gedichte unters Volk zu bringen. Wie Johann Peter Hebel wollte er nicht nur für die gehobene Schicht lesender Bildungsbürger schreiben, sondern in die Breite wirken. Darum schrieb er auch kaum Bücher, sondern publizierte viel lieber eine eigene „Zeitung“ voller Geschichten, Traktaten und Gedichten, eben den periodisch erscheinenden Wandsbecker Boten. Den meisten erschien er gar nicht aufgeklärt zu sein, sondern zu sehr von einem innigen Christentum geprägt, dem man allerdings ein großes Potential an humaner Zeitkritik, vor allen an den Folgen der Jakobiner-Herrschaft, nicht absprechen konnte.
Und so war sein Christentum, das sich in seinen späteren Jahren zu einer immer erbaulicheren, fast aristokratischen Religiosität auswuchs, nicht nur innig, sondern wurde auch nach außen gelebt und war so tolerant, sich der Religionskritik zu öffnen. Claudius wurde nicht müde, in Gesprächen und Disputen seine Vorstellung eines gütigen und strafenden himmlischen Vaters gegen die rationalistischen Ideen eines göttlichen Vernunftsprinzips, wie es viele seiner Freunde (die zugleich seine Gegner waren) vertraten, munter zu verteidigen. Vielmehr noch war es wohl eher seine vermittelnde Art, die sich viele seiner Gegner zu Freunden nahm, um mit ihnen in einen unendlichen Dialog eintreten zu können. Zwar hielten ihn Goethe und andere Weimarer Größen nur für prätentiös (heute würde man sagen: präpotent) und etwas philiströs, aber die große Unbefangenheit und Aufrichtigkeit, mit der er sich den tragischen Katastrophen seiner Zeit, dem Unglück und Elend anderer Menschen widmete, war eine weltoffene Haltung, von der sich einige Zeitgenossen eine Scheibe hätten abschneiden können. Ein Wolkenkuckucksheim war diese Art von tätigem und aufgeklärtem Christentum jedenfalls nicht. Es war über die Grenzen der Religion wie der Religionskritik gleichermaßen aufgeklärt und lieferte ihm und den Menschen, die ihn lasen und ihm folgen sollten, keinen billigen Trost.
Ganz unprätentiös in Inhalt und Ton, sondern eher kompetent, sachkundig und elegant erzählt Annelen Kranefuss vom Leben dieses aufgeklärten Antiaufklärers, von seinen zeittypischen Lebensumständen, seinen mannigfachen intellektuellen Beziehungen zu Zeitgenossen und von seinem privaten Glück. Sie hat den richtigen Blick und und den aufmerksamen Sensus für die philosophischen Ambitionen und die innere Widersprüchlichkeit ihres auserwählten Protagonisten mitten in einer aufregenden Zeitenwende zwischen Aufklärung, Sturm und Drang, Empfindsamkeit und Romantik, also all jenen nicht-klassischen Zeitströmungen, denen Claudius entweder anhing oder mit denen er sich auseinandersetzte.
Dieses lesefreundlich mit 19 Abbildungen, 14 Großkapiteln und vielen kleinen Unterkapiteln, mit Zeittafel, Literaturverzeichnis, Anmerkungen und Register ausgestattete Buch braucht keinen Jahrestag, um sich einer der imposantesten Figuren des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu widmen – wollte man es nicht als die erste große, schon jetzt fällige Hinwendung zu und Einstimmung auf Claudius’ 200. Todestag im Jahre 2015 ansehen. Vieles, was dann noch erschienen wird, wird sich an diesem gelungenen Erstling einer Interpretation des Wirkens von Claudius für unser gerade begonnenes Jahrhundert messen lassen müssen.

Berlin, 02.07.2011                                                              Peter Sühring

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