Ferruccio Busoni: Briefe an seine Frau 1889–1923. Gesamtausgabe / Hrsg. von Martina Weindel. Bd. I: Briefe. Bd. II: Kommentar, Verzeichnisse und Register. Wilhelmshaven: Heinrichshofen-Bücher, 2015. – 1.280 S.: zuzügl. 43 Bildtafeln, zahlr. Sw-Abb. (Quellenkataloge zur Musikgeschichte ; 66)
ISBN 978-3-7959-0990-1 : je € 198,00 (geb.)
Briefausgaben können durchaus die Qualität von Schmökern haben: Sich in das Leben eines anderen Menschen einzulesen balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Neugier, Sachinteresse und Respekt – und dieser Respekt lässt sich im Falle der Briefe Ferruccio Busonis (1866–1924) an seine Frau Gerda geb. Sjöstrand (1862–1956) auf alle Beteiligten ausdehnen: auf die beiden Briefpartner, die Herausgeberin, deren immense Arbeit man nur bewundern kann, und den Verlag, der dieses nicht gerade leichtverkäufliche (und auch kilomäßig schwergewichtige) Projekt in zwei leinengebundenen Prachtbänden und einschließlich aller liebevoll faksimilierten Zeichnungen, mit denen Busoni seine Briefe ausschmückte, vorlegt.
Vorab also: Chapeau! Ein hochwertiges Buch, das sowohl fesselndes Lesefutter zu dem Pianisten, Dirigenten, Komponisten, Bearbeiter, Herausgeber, Lehrer, Musikästhetiker, Essayisten und Menschen Busoni vorlegt als auch tiefere Einsichten in Werk und Biographie sowie in das Leben und Denken der Jahrhundertwende enthält. Angesichts der Vielzahl an musik- und kulturgeschichtlich relevanten Menschen, mit denen Busoni in Kontakt trat, lässt die ansonsten makellos ausgestattete Edition im Anschluss an 400 Seiten ausführlicher, kenntnisreicher und sinnstiftender Kommentare nur einen letzten Service vermissen: eine Erweiterung des Personenverzeichnisses um biographische Stichworte.
Auch wenn das Ehepaar nach seiner bereits eine Woche nach der ersten Begegnung erfolgten Verlobung eher selten getrennt war, erweist sich Busoni als ein unermüdlicher Briefeschreiber, der seine Frau auf Konzertreisen fast täglich an seinem Leben, Erleben und Denken teilhaben ließ. Das tat er in einem liebevollen, witzigen, überströmenden, assoziativen, häufig auch nachdenklichen Stil, der allein schon die Lektüre lohnt. Die Bindung der Ehepartner muss sehr vertraut und umfassend gewesen sein, da Busoni sich auf nahezu allen Gebieten mit seiner Frau austauscht. Dass er sie bis zum Schluss mit „Liebe Frau Gerda“ anspricht und mit „Dein Ferro-Mann“ unterschreibt, zeugt von einem gewissen Stolz auf die Verbindung – und offenbar war Gerda Sjöstrand eine Ehepartnerin, auf deren Jawort er tatsächlich stolz sein konnte: Die Tochter zweier bildender Künstler formte sich zielstrebig und qualitätsbewusst zur Klavierlehrerin (u. a. durch eine einjährige Ausbildung in Berlin), entschied sich dann aber, dem Wunsch ihres Mannes zu folgen und ganz die Frau an seiner Seite zu sein. Der Ton der Briefe lässt vermuten, dass Busoni sie in seine Kunst- und Musikanschauung einband, sie gewiss auch als musik- und kunsterfahrene Geistespartnerin respektierte und seine Schriften im Dialog mit ihr entwarf. Dass ihr Selbstverständnis es ihr erlaubte, sich seinem Weiblichkeitsideal anzupassen (nicht zuletzt, indem sie der schwedischen Heimat, ihrer Sprache und ihrer Ausbildung den Rücken kehrte, um den beruflichen Stationen und Interessen ihres Mannes zu folgen), dehnt den eingangs genannten Respekt in jeder Hinsicht auch auf die Briefpartnerin aus, deren Person als Zielpunkt, Sinngeberin und Kommunikationsanker aus Busonis Briefen hervortritt.
Gegenüber der von Gerda Busoni mitbetreuten, gekürzten und unkommentierten Auswahlausgabe von 1935 umfasst die vorliegende Gesamtausgabe stolze 853, z.T. neu datierte Dokumente. Nicht in das Textkorpus integriert, aber für die reichhaltigen Kommentare herangezogen wurden Briefbeilagen (Zeitungsausschnitte etc.) sowie die Gegenbriefe. Als Grund für den Verzicht wird der Verlust zahlreicher Antwortschreiben genannt – sei es, weil Gerda Busoni neben einem idealisierten Bild ihres Mannes auch ein bestimmtes Selbstbild herstellen wollte, sei es wegen gefühlter sprachlicher Mängel in der Nicht-Muttersprache Deutsch. Da Letzteres nach Durchsicht der zitierten Passagen kaum nachvollziehbar bleibt und Ersteres dem Medium Brief ohnehin eingeschrieben ist, ist diese Entscheidung zu bedauern. Denn das editorisch gleichberechtigte Nebeneinander beider Korrespondenzpartner hätte trotz aller Lücken ein authentischeres Bild des Ehepaars gezeigt als das in Vorwort und Einführung nachgezeichnete. Zwar ist es verständlich, wenn die Herausgeberin, Martina Weindel, angesichts ihrer langjährigen Forschungs- und Editionserfahrung zu Busoni in diesen Kapiteln, die als zentrale Informationsquelle zum Ehepaar Busoni dienen, der Verlockung zur einfühlenden Deutung nachgibt: Behauptungen wie „Von der natürlichen Anmut, Einfachheit und Herzlichkeit Gerdas war Busoni gleich ganz gefangengenommen“ (S. 7) und „Von daher verwundert es nicht, daß Gerda bei Busonis Heiratsantrag dem ganz so anders anmutenden südländischen Charme und Temperament des Italieners vollkommen erlag“ (S. 9) sind trotz ihrer unsäglichen Klischeehaftigkeit im Kern sicherlich nicht ganz falsch. Aber Belege in Form von Selbstzeugnissen, Erinnerungen aus dem Freundeskreis oder anderen Originalquellen hätten diesen Eindruck angemessener vermittelt. – Dennoch: Eine zentrale Publikation zur Musik- und Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – und eine würdige Gabe zu Busonis 150. Geburtsjahr!
Kadja Grönke
Oldenburg, 18.03.2016