Anna Enquist: Streichquartett [Claudia Niebel]

Enquist, Anna: Streichquartett. Roman. Aus dem Niederl. von Hanni Ehlers. – München: Luchterhand, 2015. – 286 S.
ISBN 978-3-630-87467-8 : € 19,99 (geb.; auch als E-book)

Anna Enquist ist ausgebildete Konzertpianistin und Psychoanalytikerin, widmet sich aber seit 1991 ausschließlich dem Schreiben, wobei sie zunächst nur Gedichte veröffentlichte. Mit ihrem Erstlingsroman Meisterstück gelang ihr 1995 ein erster großer Erfolg, seither folgen im Jahresabstand tiefgängige Milieustudien in Romanform, die meist einen musikalischen Bezug haben und menschliche Abgründe eindrucksvoll ausloten. Hubert Winkels bescheinigt ihr neben anderem in der ZEIT Nr. 40/1995 die Fähigkeit, starke Personen, vor allen Frauengestalten zu schaffen und detailgenaue Perspektiven einzunehmen, was sich ohne weiteres auf den hier vorliegenden Titel übertragen lässt.
Die Akteure ihres neuen Romans kommen aus der niederländischen Mittelschicht (Amsterdams), die versucht, sich in einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft neu zu orientieren, was ihr letztlich aber zur Gratwanderung gerät. Es sind dies die Mitglieder eines semiprofessionellen Streichquartetts, das sich regelmäßig zum abendlichen Musizieren auf dem Hausboot des ersten Geigers Hugo einfindet. Hugo, ein Mittvierziger, ist studierter Geiger und leitet das örtliche Kulturzentrum, dessen finanzielles Desaster nicht er, sondern die korrupte Stadtverwaltung zu verantworten hat. Er hat eine kleine Tochter, von deren Mutter er sich noch vor deren Geburt trennte und die seither phasenweise beim Vater oder der Mutter lebt.
Die zweite Geige spielt seine Kusine Heleen, die ihrem Hauptberuf als Krankenschwester in einer Arztpraxis nachgeht und die auch im richtigen Leben immer nur den zweiten Part zugewiesen bekommt: ihre drei Söhne und ihr Mann führen ein im Wesentlichen vom Sport bestimmtes Eigenleben und kommen nur nach Hause, um sich schmutziger Wäsche zu entledigen und den Bauch vollzuschlagen. In der hausärztlichen Praxis kämpft sie gegen Inkontinenz, Diabetes und Krebs auf der einen Seite und gegen bürokratische Überregulierung durch Krankenkassen auf der anderen, die – wie es im Roman an anderer Stelle erbarmungslos thematisiert wird – vor allem eines im Sinn hat, nämlich hilflose, überzählige alte Menschen möglichst effizient in Altenzentren weg zu organisieren. Das hässliche Wort Euthanasie fällt denn auch mehrmals im Buch. Heleens einzige sinnliche Erfahrungen sind das Essen (sie kämpft gegen ihr Übergewicht) und die Musik, eine weitere emotionale Leerstelle füllt sie mit dem Schreiben von Briefen an einsitzende Kriminelle.
Den Part von Viola und Violoncello übernimmt das Ehepaar Jochem und Carolien, beide mittleren Alters. Jochem ist Geigenbauer und findet Erfüllung im handwerklichen Tun, während seine Frau, die als Berufscellistin begann, dann auf die Medizin umsattelte. Sie kennt Hugo aus gemeinsamer Studienzeit am Konservatorium und ist gleichzeitig als Teilhaberin der hausärztlichen Doppelpraxis auch vorgesetzte Kollegin von Heleen. Das Ehepaar hat seine beiden kleinen Söhne durch einen Unfall des Schulbusses verloren und befindet sich seither in einem Prozess des Trauerns, den beide unterschiedlich erleben. Eine weitere zentrale Figur, mit der der Roman beginnt und schließlich auch endet, ist Reinier. Reinier ist alt und gebrechlich und hat seine goldenen Zeiten längst hinter sich. Als gefeierter Cellist kann er auf ein reiches Künstler- und Pädagogenleben zurückblicken, das verbindende Element zum Streichquartett ist der regelmäßige Unterricht, den Carolien bei ihrem alten Lehrer nimmt und aus dessen Kammermusikklasse auch Hugo einst hervorging. Reinier lebt allein und muss sich mit den Zumutungen des Alterns auseinandersetzen. Der Körper verfällt rapide, es fällt ihm schwer, Hilfe anzunehmen, sein tiefes Misstrauen gegen alles und jeden nimmt mitunter paranoide Züge an.
Die Figuren sind allesamt stark und überzeugend angelegt, die schonungslose Analyse der Charaktere ohne sie gleichzeitig bloßzustellen oder zu verurteilen, kann eigentlich nur jemandem wie Anna Enquist gelingen, die trotz allem ihr Feingefühl nie verliert. Das Personal des Romans kämpft gegen Verlust, Einsamkeit und Sprachlosigkeit in seinen Beziehungen und gegen Korruption, Gleichgültigkeit, Misstrauen und Intoleranz in einer äußerst heterogenen Gesellschaft. Emotionaler Autismus versus Kultur ist eine gewagte These, aber sie wird zumindest überzeugend vermittelt. Die Musik, die als einzig verbindendes Mittel noch Brüche und Spalten verfugen kann, steht lediglich als private pleasure zur Verfügung. Der pessimistische Unterton des Romans im Hinblick auf den Zustand der abendländischen Kultur in den Niederlanden findet seine Legitimation in der Schließung des Kulturzentrums: Hugo verliert seinen Job als Kulturmanager an einen der Gewinnmaximierung verpflichteten chinesischen Tycoon, der das Zentrum zu einer event location umbauen wird. Die kurzen, eindringlichen Sätze, die als Metapher für die Knappheit der Kommunikation der Figuren gelten können, heften sich an den Leser, die Handlung treibt ihn unbarmherzig vorwärts, man liest atemlos, kann das Buch kaum aus der Hand legen. Das Streichquartett als Abbild der Rollen des Einzelnen im Buch wie im Leben ist eine letztlich tröstliche Botschaft, die Protagonisten sollen zueinander finden und versuchen, ihr Leben neu zu ordnen. Leider hat sich Anna Enquist in den Schlusskapiteln ziemlich „verhoben“: das ordinäre Verbrechen hält Einzug in den Roman und bedient sich dabei Heleens als unbewusst treibender Kraft. Ihr empathisch motivierter Briefwechsel in die örtliche Strafanstalt hat ungeahnte – aber auch wie ich finde – unglaubwürdige Folgen. Was hier als psychologische Studie begann, endet in einem Gewaltexzess. Die Zufälle, die das Leben spielt, wirken äußerst konstruiert und nehmen dem Roman am Ende viel von seiner Wirkung. Schade, denn das Buch käme auch ohne diese als Katharsis angelegte Klimax aus.

Claudia Niebel
Stuttgart, 08.03.2016

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