Friederike Wißmann: Deutsche Musik [Peter Sühring]

Wißmann, Friederike: Deutsche Musik – München/Berlin: Berlin-Verlag, 2015. – 511 S.: Abb.
ISBN 978-3-8270-1180-0 : € 38,00 (geb.; auch als E-book)

In Anlehnung an Wagners Pamphlet über ein „Judentum in der Musik“ heutzutage ein Buch „Vom Deutschtum in der Musik“ zu nennen, klänge viel zu verstaubt nach dem Jargon des 19. Jahrhunderts. Fraglich ist aber auch, ob man in Deutschland entstandene, von Deutschen komponierte, in einem deutschen Idiom oder mit deutschem Akzent geschriebene Musik (was man erst mal kompositionstechnisch nachweisen müsste) als „deutsche Musik“ bezeichnen sollte. Unbestritten hör- und analysierbare nationale Eigentümlichkeiten in der Musik sind (wie auch andere Sitten und Gebräuche der Völker) lediglich Unterschiede in der Form, die das Wesen der Sache Musik kaum berühren. Es geht um Fuge, Wiener Sonatenschema, kanonischen Gesang, obligates Accompagnement, thematisch-motivische Arbeit, kühne Harmonik, entwickelnde Variation, Tiefe, Liedhaftigkeit oder wie die Bezeichnungen weiter heißen mögen. Als Deutscher oder auch Nicht-Deutscher sich an deutscher Art in der Musik oder was man dafür hält zu erfreuen, muss nicht mit chauvinistischer Überheblichkeit einhergehen. Weil es aber in der Vergangenheit massiv damit einherging, steht jede freundliche und bewundernde Darstellung der deutschen Form von Musik unter dem Verdacht, einen nationalen Inhalt von Musik zu postulieren, von dem oft behauptet wurde und wird, dass er dem anderer Nationen überlegen wäre. Einen deutschen Inhalt oder ein deutsches Wesen von Musik gibt es aber nun schlicht und einfach nicht, und sie werden auch von Wißmann als ideologisches Konstrukt dezidiert und beweiskräftig zurückgewiesen. Wie überhaupt das vorliegende Buch über den Verdacht erhaben sein kann, es würde die Problematik eines Redens über deutsche Musik nicht genügend reflektieren.
Dennoch geht es in der nötigen Entmythologisierung des Phänomens deutscher Musik nicht weit genug, was man auch daran erkennen kann, dass der Verlag sich nicht enthalten konnte, auf seiner Homepage mit Neuaufgüssen dieses Mythos durch Formulierungen wie „Keine der Künste verehren die Deutschen so leidenschaftlich, keine verbindet die Welt so sehr mit Deutschland wie die Musik“ hausieren zu gehen. Es wäre darauf angekommen, die den Deutschen aus wohl verstandenen Selbstbehauptungs- und später Hegemonie-Interessen angedichtete Affinität zur Musik gründlich als Lüge und Bestandteil der deutschen Spießer-Ideologie zu entlarven. Denn schon kriecht im heutigen Deutschland aus einem vor kurzem kaum mehr vorstellbaren, immer noch fruchtbaren Schoß die Forderung hervor, es den Konzert- und Opernhäusern „zur Pflicht zu machen, zur Stärkung der Heimatliebe beizutragen“ – wie es aktuell im Programm einer schnell stärker werden rechtsextremen Partei [AfD] heißt. Der Musikmissbrauch mit totalitären Ambitionen war also nicht nur Gefahr und Realität einer deutschen Vergangenheit, sondern steht wieder als grässliche Zukunftsvision einer nur mit sich selbst identisch sein sollenden deutschen Kulturnation vor unserer Tür.
In der deutschen Musikgeschichtsschreibung ist ja die Oberhoheit der deutschen Musik über den Rest der Welt ‑ meist inzwischen sogar ganz unbewusst ‑ schon allein durch solche Sprachregelungen festgeschrieben, dass man von der Sonatenform im Singular spricht. Damit wird aber lediglich ein bestimmtes in Deutschland, speziell in der Stadt Wien entwickeltes Modell universalisiert, das selbst schon die sogenannten Wiener Klassiker zu ihren Lebzeiten tüchtig zerrupft haben. Dass es darüber hinaus, davor und danach, in und besonders außerhalb Deutschlands eine Vielzahl anderer pluraler Sonatenformen gab und gibt, wird mit diesem Sprachgebrauch einfach vergessen gemacht und unter den Teppich gekehrt. Bis in solche Subtilitäten oder auch (wie man’s nimmt) basale Generalisierungen hinein, hätte man die mit einer Rede über deutsche Musik verbundenen Symptome und Syndrome verfolgen können. Wißmann tut dies nicht, und das hat auch Vorteile: sie bleibt besonnen, hütet sich vor Aufgeregtheit und Polemik und argumentiert abwägend, ausgleichend. Und beschreibt und erzählt stattdessen eindringlich, was über die Jahrhunderte in Deutschland mit Musik passierte und bewegt wurde.
Dass sich die Autorin dabei weitgehend auf weit verstreute und mitunter trübe Sekundärquellen stützt, kann stellenweise nicht gutgehen und lässt die Verlässlichkeit und Qualität mancher Darstellung etwas leiden. Nun kommt es gerade bei einer populärwissenschaftlichen Erzählung und besonders bei einer zu diesem heiklen, von ideologischen Verbrämungen verdorbenen Thema ganz besonders auf Genauigkeit an, um über Jahrhunderte fortgepflanzte Vorurteile und Mythen zerstreuen zu helfen. Um den Mythos Luther in seiner letzten Konsequenz zu benennen, hätte Wißmann noch ganz andere Sekundärliteratur heranziehen müssen. Denn der Ursprung des langwährenden separatistischen Sonderwegs der deutschen Musik, der mit Sendungsbewusstsein in die chauvinistische Überheblichkeit des Nationalsozialismus führte, müßte präziser bezeichnet werden. Hier wären die von Dostojewski ausgelöste Definition Deutschlands als der protestierenden Macht und die Art, wie Thomas Mann dies in dem Protest-Kapitel seiner Betrachtungen eines Unpolitischen geradewegs auf die Musik münzte, heranzuziehen gewesen, um die immer wieder propagierte Rolle der deutschen Musik als Widerstand gegen alles Nichtdeutsche in ihrem lutherischen Ursprung zu erkennen.
Generell sind Bedenken gegen eine manchmal flüchtige und nur kompilierende Arbeits- und Darstellungsweise Wißmanns anzumelden, denn sie führt, neben vielen erfreulichen Klar- und Richtigstellungen, zu wenigen aber empfindlichen Missverhältnissen und beim Leser zu entsprechenden Missverständnissen oder Bestärkungen immer noch virulenter Fehlurteile ‑ zumindest in hier benennbaren Punkten, bei denen der Rezensent glaubt, sich gut auszukennen, wie beispielsweise bei Äußerungen zu Mendelssohn, einem bekanntlich wunden Punkt in der Rezeption deutscher Musik durch die Deutschen.
Warum zitiert Wißmann im Jahr 2015 mehrmals Briefe von Mendelssohn (z. B. aus Rom an seinen Freund Klingemann) und andere überlieferte Äußerungen nach einer kleinen Mendelssohn-Monografie von Martin Geck anstatt aus der inzwischen auf neun Bände angewachsenen Ausgabe von Mendelssohns Sämtlichen Briefen? Hat sie überprüft, woraus und wie Geck zitiert? Man sollte heute, um die Verderbtheit von Mendelssohn-Zitaten wissend, nur noch aus der neuen kritischen Ausgabe seiner Briefe zitieren.
Schlimmer noch: Warum zitiert Wißmann zwei direkt aufeinander folgende Sätze aus einem Brief von Zelter an Goethe über den jungen Felix Mendelssohn aus zwei verschiedenen Ausgaben des Zelter-Goethe-Briefwechsels, davon einer aus dem Jahr 1934 und dazu noch in indirekter Rede (wie auf S. 28, siehe ihre Anmerkungen 6 und 7 zum Kapitel mit dem schönen Titel „Himmlisch“)? War es ihr nicht möglich, diesen Brief in Gänze in diesen nachgewiesenen Quellen zu lesen und dann aus der kritischen von beiden zusammenhängend zu zitieren? (Nur allzu zu oft gibt es in diesem Buch das gefährliche Verfahren nach der Methode „zitiert in:…“, zitiert nach:…“, das gilt auch u. a. für Schumann-Zitate.) Ob daraus Fehlinterpretationen entstehen können? Sicherlich! Denn, was soll das heißen: „…aber kein Jude im eigentlichen Sinne sei“? Zelter schrieb an Goethe: „Er [Felix] ist zwar ein Judensohn aber kein Jude.“ Der hier unterstellte „eigentliche Sinn“ des Nicht-Judeseins von Felix ist bei Zelter lediglich der religiös-rituelle Sinn, denn er spricht in unmittelbarem Anschluss davon, dass der Vater „mit bedeutender Aufopferung seine Söhne“ habe nicht beschneiden lassen. Diesen Sinn aber können nur Christen und jüdische Orthodoxe für den eigentlichen halten, eine Interpretation, die die Autorin stillschweigend übernimmt. Wißmann entfernt sich damit zwar nicht so sehr von der christlichen Sicht Zelters, wohl aber von der des Vaters Mendelssohns, der als säkularer Jude (der er seiner inneren Gesinnung nach war) zuerst seine Kinder und dann sich und seine Frau (also nicht „die Familie Mendelssohn 1816“) taufen ließ, und zwar aus rein pragmatischen Gründen der äußeren gesellschaftlichen Rücksicht und der Anpassung. Der damalige Druck der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft gegen ungetaufte Juden konnte, wie Wißmann schreibt, mit „Antisemitismus“, der als Rassenlehre erst gegen Ende der 1870er Jahre entstand, noch nichts zu tun haben, und die Konversion erfolgte auch nicht pauschal zum „Protestantismus“ (an anderer Stelle heißt es evangelisch-lutherisch), sondern speziell und nicht zufällig zum „reformierten“ Glauben, jener damals noch nicht unierten christlichen Richtung. In dieser hatte das Alte Testament eine bedeutendere Stellung und in ihr waren nur die in den Evangelien überlieferten Worte Jesu als Glaubensinhalte anerkannt. Diese Umstände befähigten Mendelssohn auch, Kirchenmusik für jedwede Konfession (inkl. der katholischen, hugenottischen und anglikanischen) zu schreiben. Ist das alles so wichtig? Im Falle Mendelssohns und seiner Geschichte in Deutschland schon.
Schön und gut ist, dass Wißmann Mendelssohns Nähe zu dem Musiker in der Person Luther und zu Bach verdeutlichen kann (allerdings auf Kosten seiner mindestens ebenso großen Nähe zu Händel). Was es aber mit seiner zweiten Sinfonie (in der späteren, aus mehreren Gründen unsinnigen Zählung die Nr. 5), die er ursprünglich zum 300. Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses schrieb und gerne aufgeführt hätte, auf sich hat, wird nicht recht klar (S. 37). Mendelssohn hatte sie nach der um zwei Jahre verspäteten, missglückten Berliner Uraufführung verworfen und wollte sie weder je wieder aufgeführt noch gedruckt sehen. Insofern war es nicht „ungewiss, ob“, wie Wißmann schreibt, sondern gewiss, dass „der Komponist mit einer Publikation dieses Werkes [nicht] einverstanden gewesen wäre“. Da er sie nicht vernichtet hat, war es wiederum richtig, sie trotzdem posthum zu veröffentlichen. Diese sogenannte Reformationssinfonie wird auch heute noch selten gespielt, aber nicht „vielleicht, weil der Komponist selbst an seinem religiös-programmatisch ausgerichteten Werk Zweifel hatte“ ‑ nein, an dieser Ausrichtung zweifelte er nie, sondern weil die Nachwelt sich dem bekannten Urteil ihres Komponisten selbst angeschlossen hat. Der fand, die musikalischen Themen und Motive seien nur scheinbar bedeutend durch das, was sie bedeuten wollten, aber rein musikalisch nicht interessant genug (vgl. Brief Mendelssohns an Rietz vom 23. April 1841). Das allein wäre übrigens noch kein Grund, diese Sinfonie nur selten zu spielen, denn vieles andere, viel gespieltes gerade an deutscher Musik ist interessant allein durch das, was es bedeuten will. Dass Mendelssohns sieben Opern heutzutage kaum bis gar nicht mehr gespielt werden, mag viele Gründe haben, gewiss aber nicht den, dass die Gattung Oper Mendelssohn „nicht besonders gelegen“ hätte (S. 40). Hierüber werden in Kürze Publikationen des Rezensenten in einem neuen Handbuch mit Interpretationen der Werke Mendelssohns nähere Auskünfte geben.
Nur am Rande bemerkt sei eine mangelhafte (zum Glück nicht durchgängige) Art, Zitate nachzuweisen, die aber wohl nur darauf hindeutet, wie heiß die Nadel war, mit der hier gestrickt wurde. Das Kürzel für „Ebenda“ dürfte in einer Anmerkung korrekt nur verwandt werden, wenn es sich auf die in der unmittelbar vorherigen Fußnote nachgewiesene Quelle bezieht. Nehmen wir die Nummernfolge 70‑72 der Anmerkungen zur Einleitung, so bezieht sich die Anmerkung 71 („Ebd., S. 20“) nicht auf den in der Anmerkung 70 genannten Titel Choral Fantasies, sondern auf einen in Anm. 38 erstmals nachgewiesenen Titel von Pamela Potter, und die Anm. 72 („Ebd., S. 63 u. 70“) auf einen in der Anm. 66 nachgewiesenen Beitrag von Anselm Gerhard zu einem Sammelband über den Kanon der Musik.
Das umfängliche, weitläufige und in viele Unterkapitel tief gefächerte Buch entfaltet in Hülle und Fülle – unter ausgiebiger, teilweise unkritischer Verwertung von vor allem jüngerer Sekundärliteratur ‑ liebevolle Beschreibungen von in Deutschland bis hin zu Henze und Stockhausen komponierter Musik, von deren kulturellen und sozialen Hintergründen und der Mentalität, aus der heraus diese Musik geschrieben und aufgenommen wurde,– Musik, die die Autorin offensichtlich liebt und schön findet, wie der Rezensent auch. Auch die Operette, der Schlager, Pop und Rock werden nicht, wie sonst üblich, ausgeblendet. Besondere Kapitel widmen sich der emigrierten sowie der diktierten Musik in beiden deutschen Diktaturen, wobei weniger die ausführlich dargestellte untergründige und oppositionelle Musik in der DDR, zu der auch die Hanns Eislers und Paul Dessaus zu zählen ist, sondern die offizielle und angepasste Musik der DDR im Vergleich der Systeme schlecht abschneidet.
Sollte man ein Unbehagen haben beim Hören der von Pfitzner komponierten Musik, weil man weiß, dass er für die Eliminierung von futuristischen und in seinen Augen künstlerisch impotenten Musikerkollegen aus dem Musikbetrieb eintrat, ein Anhänger der Nazis war und Kompositionen verbrecherischen Nazigrößen widmete, wie schon im Ersten Weltkrieg dem Flottenadmiral von Tirpitz? Pfitzners Musik kann man durchaus mögen; er war – abgesehen von einigen gefährlich futuristischen und musikalisch impotenten Stücken, die natürlich auch er geschrieben hat ‑ kein schlechter Komponist. Ein ähnliches Unbehagen könnte einen auch befallen, wenn man die späten zarten und filigranen atonalen Stücke für Streichquartett von Anton Webern hört und daran denken muss, dass er zur gleichen Zeit als überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus versuchte, seinem alten Lehrer Schönberg brieflich die abendländischen Kriegsziele Hitlers zu erläutern und darauf hoffte, der „Führer“ möge die Zwölftonmusik zur höchsten Blüte eben der deutschen Musik erklären.
Haarig wird es dann wieder gegen Ende des Buches beim Aufwärmen des Faust-Mythos in Verbindung mit deutscher Musik, aber das ist ein zu weites Feld… Ein Buch, in dem das verminte Gelände der deutschen Musik in seinen wichtigen Stationen vornehmlich und direkt aus Primärquellen (den Zeugnissen der Komponisten) und den jeweils zeitgenössischen kulturellen Originalquellen heraus dargestellt ist, bleibt weiterhin ein Desiderat. Anknüpfend an eine Bemerkung von Chamisso im Vorwort zu seinem Reisebericht könnte man sagen: was an diesem Buch über Musik selber gehört und erforscht wurde, verdient aufgehoben zu werden, was darin nur aus andern Büchern ausgeschrieben und zusammengetragen worden ist, mag verdrängt werden und verhallen.

Peter Sühring
Berlin, 13.03.2016

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