Annkatrin Babbe: Clara Schumann und ihre SchülerInnen am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt a.M. [Claudia Niebel]

Babbe, Annkatrin: Clara Schumann und ihre SchülerInnen am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt a.M. Mit einem Vorw. von Freia Hoffmann und Beiträgen von Markus Gärtner und Ulrike Keil. – Oldenburg: BIS-Verlag, 2015. – 255 S.: Ill. (Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts; 11)
ISBN 978-3-8142-2312-4 : 26,80€ (kart.)

Es ist neben anderen die Historikern Barbara Hahn, auf die Annkatrin Babbe in ihrem Vorwort rekurriert und die in ihrem Essay Lesenschreiben oder Schreibenlesen: Überlegungen zu Genres auf der Grenze (Modern Language Notes 3, 2001, S. 566) die These vertritt, ein neues Geschichtsverständnis ließe sich am ehesten erzeugen durch das Bekenntnis zu unseren Lücken und nicht durch deren Überschreitung: das Bestreben, einen möglichst konsistenten Erzählfluss mittels Deutung oder Mutmaßung herzustellen erscheint ihr a priori suspekt, der Konstruktionscharakter von Geschichtsdarstellung entlarvt sich selbst als unzulänglich. Weitere Referenzperson ist der Geschichtstheoretiker Klaus Füßmann mit seiner Überzeugung, dass alles was man aufschreibt, an was man sich erinnert oder was man ableitet, eigenen Sichten unterworfen wird und somit subjektiv ist. Einige wesentliche Parameter seiner These sind – bezogen auf den Schreiber – die der (subjektiven) Perspektive, die der Retrospektivität, der Selektivität und der Partikularität (= Auswahl und Kombination der Quellen). Der Konstruktivismus und dessen zentrale Annahme einer Theorie der Deutungsmuster standen hier Pate. Folgerichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Implementation neuer Verfahren der Biographik, wie sie auch Beatrix Borchard in ihrer neuen Clara-Schumann-Montage (rezensiert auf dieser Website) für sich reklamiert.
Die Autorin des vorliegenden Titels promoviert zurzeit an der Universität Oldenburg im Fach Musikwissenschaft mit einer Untersuchung zur Instrumentalausbildung an den Konservatorien Wien und Prag im 19. Jahrhundert; die mutmaßlich reichen Erträge ihrer Forschungsarbeit dürften mit Anlass gewesen sein, die Ergebnisse aus Randbereichen ebenfalls zu sichern und im Hinblick auf Clara Schumann gleichzeitig eine biografische Lücke zu schließen. Dass sie sich dabei ebenfalls der Montagetechnik bedient, wie sie erklärend formuliert, wird der Arbeit in ihrer Gänze aber nicht gerecht, denn der Eigenanteil an diesem Sammelband mit Kurzbiografien von ausgewählten Schülern Clara Schumanns ist qualitativ und umfänglich nicht zu unterschätzen. Babbe hat äußerst akribisch recherchiert, methodisch sorgfältig gearbeitet und noch besser formuliert, die Biografien sind zwar „montiert“ aber eben nicht nur. Die lesende Rezensentin beschleicht hier leicht der Verdacht, die feministische Musikwissenschaft vereinnahme das Montageverfahren gewissermaßen für sich und laufe dabei Gefahr, zu einem selbstreferentiellen System zu werden. Das wäre schade! Die Studie beginnt mit einem ausführlichen einleitenden Teil, der sich mit dem Hoch’schen Konservatorium sowie mit den Themen Clara Schumann als Lehrerin, ihre Schüler und das Studium in ihrer Klasse (Unterrichtsschwerpunkte, didaktische und methodische Verfahren usw.) befasst. Eine ausführliche Bibliographie beschließt diesen Themenkomplex.
Im zweiten Teil werden nach Art eines biografischen Lexikons 53 ihrer insgesamt 68 nachgewiesenen (mehrheitlich weiblichen) Schüler alphabetisch vorgestellt, wobei Babbe bestrebt ist, möglichst viel Quellenmaterial zu zitieren (Erinnerungen der betreffenden Personen, Konzertprogramme, Rezensionen, Prüfungsakten, Briefe usw.) und in ein stimmiges und valides Geschichtsbild zu transformieren, das dem Leser Optionen für seine eigene Deutung einräumt. Das funktioniert vor allem auch deshalb, weil Clara Schumann eben die am besten erforschte Musikerin des 19. Jahrhunderts (und gleichzeitig Gattin eines ebenfalls bedeutenden und gut erforschten Komponisten) ist und von einem wissenden Leser ausgegangen werden kann. Als Fassette eines Mosaiks kann dieses Verfahren daher dazu dienen, die Komposition des Bildes kleinteiliger und damit hochauflösender werden zu lassen. Clara Schumann begann mit ihrer Lehrtätigkeit in Frankfurt 1878, da war sie bereits 59 Jahre alt, und unterrichtete in der Folge 13 Jahre, bis sie aus gesundheitlichen Gründen den Abschied einreichte. Das Conservatorium entstand 1878 als Stiftung des Frankfurter Bürgers Dr. Joseph Hoch, es existiert bis heute und vereint unter seinem Dach die musikalische Ausbildung von der musikalischen Frühförderung bis hin zum akademischen Abschluss eines B.A. Als Direktor wurde Joachim Raff berufen, der seinerseits ein Kollegium aus namhaften Künstlern zusammenstellte, unter denen Clara Schumann als „erste Lehrerin“ eine Sonderstellung innehatte. Anfragen anderer Konservatorien hatte sie zuvor entweder abgelehnt (z. B. Stuttgarts, von wo sie übrigens auf Grund divergierender Handhaltungsvorstellungen – mit einer Ausnahme – keine Schüler übernahm) oder die von ihr gestellten Bedingungen erschienen den Trägern unerfüllbar. In Frankfurt waren mit ihrer Sonderstellung geradezu üppige Konditionen verknüpft: u. a. erhielt sie ein Gehalt von 2.000 Talern, hatte Anrecht auf 4monatigen Urlaub, um konzertieren zu können, sowie das Privileg, sich ihre Schüler ausnahmslos selbst aussuchen (sie verbat sich jegliche administrative Einmischung) und diese auch ausschließlich zuhause unterrichten zu dürfen. Darüber hinaus war es ihr gelungen, ihre Töchter Marie und Eugenie als Lehrerinnen der Vorbereitungsklassen für ihren eigenen Unterricht zu installieren, letzteres übrigens ein enormes Zugeständnis seitens des Direktors, der nicht die Absicht hatte, Frauen ins Kollegium zu berufen, denn auch „Mme. Schumann kann ich selbst wohl als Mann nehmen“. Sie unterrichtete über das vertraglich vereinbarte Pensum von 1,5 Stunden täglich hinaus, ihre Schüler kamen vormittags in ihr Haus, wo sie sie in der Regel in Gruppen bis zu vier Schülern zusammenfasste. Jedem räumte sie 30 Minuten Spielzeit ein, die andern hörten zu, anschließend wurde Gehörtes, Erlebtes und Empfundenes aus allen Perspektiven geschildert, diskutiert, am Instrument umgesetzt und/oder korrigiert.
Bei aller Verehrung und allem Respekt vor der Lehrerin und deren Lebensleistung schwingt in den zitierten Schüleräußerungen auch Beklommenheit mit, die Pianistinnen und Pianisten schildern sie als sehr streng, unnachsichtig und Angst einflößend. Vergegenwärtigt sich man allerdings die Bedingungen professioneller – vor allem weiblicher – Musikausübung damaliger Zeit, erscheint es plausibel, dass eine derartige Schule nicht hart genug sein konnte, um bei der Sicherung seines Lebensunterhaltes nicht unter die Räder zu kommen. Ihr künstlerischer Anspruch und der an die Selbstdisziplin waren so hoch, dass sie nicht wenige Schüler gar nicht erst annahm oder diese an ihre Töchter zurückverwies. Ein Drittel ihrer Schülerschaft stammte aus Deutschland, fast ein Drittel aus England, wo sie international am häufigsten konzertierte, der Rest kam aus Amerika, Italien und anderen Ländern. Sie gab während ihrer Konzertreisen gewohnheitsmäßig Klavierstunden vom Zuschnitt heutiger Meisterkurse, die ihren Ruhm mehrten und ihr deshalb auch internationale Anfragen bescherten. Insofern wirkte sie naturgemäß Schule bildend, denn die Konservatoriumsabgänger wirkten ihrerseits als Pädagogen und Künstler und gaben ihr Können an Andere weiter. So gehörten beispielsweise die Pianistin, Dirigentin (Frauenorchester!), Pädagogin und Komponistin Mary Wurm zu ihren Schülerinnen ebenso wie Fanny Davies, die als äußerst vielseitige Künstlerin in Personalunion auch als Kammermusikerin, Agentin und Publizistin tätig war und von den Zeitgenossen als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des englischen Musiklebens gesehen wurde. Interessanterweise existieren von etlichen ehemaligen Schülern Tonaufnahmen auf Walzen, Rollen (Welte-Mignon) oder Musikdrähten, so dass sich anhand der Interpretation unterschiedliche Aspekte und Dimensionen des Schumann‘schen Klavierunterrichts weiter erforschen lassen. Hier öffnet sich für nachfolgende Forschergenerationen sicher ein lohnenswertes Arbeitsfeld.
Im Rückbezug auf ihren methodischen Ansatz gelingt es Babbe jedenfalls überzeugend, das Bild von Clara Schumann zu erweitern und um neue Teilaspekte zu bereichern. Sie formuliert sprachlich versiert, verdichtet Informationen gut ohne zu vereinfachen oder zu werten. Das Buch habe ich daher mit großem Gewinn und nicht minder großem Vergnügen gelesen. Kleine Anmerkung am Rande: der wiederholt zitierte Woldemar Bargiel (z. B. auf S. 218) ist nicht Clara Schumanns Stief- sondern deren Halbbruder, da sie die Mutter Mariane gemeinsam hatten. Auf S. 238 stimmt die Jahreszahl nicht (1838 => 1938), ebenso könnten kleinere Satzzeichenfehler bereinigt werden.

Claudia Niebel
Stuttgart, 18.09.2015

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