Kerstin Lange: Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900 [Kadja Grönke]

Lange, Kerstin: Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 214 S. (Transnationale Geschichte ; 5)
ISBN 978-3-5253-0172-2: € 59,99 (geb.; auch als e-book)

Der Tango Argentino ist ein komplexes Phänomen: Im Tanz gestaltet er ein Miteinander der Geschlechter im Sinne eines Rollenspiels, in der Musik amalgamisiert er europäische, lateinamerikanische und kreolische Einflüsse, seine Gesangstexte beschreiben und prägen die Weltsicht der argentinischen Einwanderergeneration um 1900 sowie der vom Land in die Stadt getriebenen Gauchos, die Sprache ist eine originäre Neubildung, mit der das multinationale Gemisch der Arbeiterviertel seine eigene Kultur findet. Zugleich ist der Tango ein frühes Beispiel populärer Kultur und ihrer Massenwirksamkeit, spielt in die Mode- und Emanzipationsgeschichte ebenso hinein wie in die Sitten- und Sozialgeschichte, nutzt gezielt Rundfunk, Kino und Fernsehen zu seiner Verbreitung und bringt so zugleich einen spezifischen Starkult hervor. Mit dem Bandoneón und dem Orchesta tipica besitzt er eine ganz eigene Instrumentalbesetzung; seine musikalischen Formen weisen ein ebenso hohes Maß an Improvisation auf wie die Choreographien, und im Verlauf seiner inzwischen weltweiten Rezeptionsgeschichte hat sich der Tango immer wieder neu erfinden können.
Ein derart komplexes Phänomen kann man kaum in einer einzigen Untersuchung erfassen. Historische und lexikalische Darstellungen versuchen eine Bestandsaufnahme, einzelne Fächer wie die Gender- oder Sozialgeschichte erhellen ausgewählte Aspekte, und jedes neue Schlaglicht lässt zugleich erkennen, was alles nicht beleuchtet wurde.
So geht es auch der Leipziger Dissertation der Historikerin Kerstin Lange. Es wäre müßig aufzuzählen, wie sehr Musik, Choreographie, Textinhalte und -aussagen in ihrer Arbeit zu kurz kommen. Doch diese Kernphänomene des Tangos sind auch gar nicht Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses: Lange wählt den Tango vielmehr als Fallbeispiel für die Entstehung einer Massenkultur und verortet diese exemplarisch in den Metropolen Paris und Berlin. Das überrascht nur auf den ersten Blick, denn tatsächlich beginnt der argentinische Tango ja erst durch die begeisterte Aufnahme in der Pariser Oberschicht nach und nach auch in Buenos Aires gesamtgesellschaftlich wirksam zu werden. Parallel zu dem Rücktransfer eines französisch umgeprägten Tangos nach Argentinien wandert das Kulturphänomen Tango nach Berlin, und Lange zeigt, wie divergierend es in den beiden europäischen Metropolen diskutiert wurde und wie unterschiedlich es die dortige Popularkultur beeinflusst hat.
Als „transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900“ angelegt und in ihrer Methodik einleuchtend begründet, stützt sich die Untersuchung auf einen reichen Bestand an Quellen und Rezeptionsdokumenten, bei denen Lange sich weniger für die Zeugnisse des Tanzes selbst interessiert als für seine Wahrnehmung und Wirkung. Dass Wilhelm II. seinen Beamten das Tangotanzen in Uniform verbieten zu müssen meint, während der Tanz in Paris zu einer weitreichenden Umwälzung der Frauenmode führt (weg von den wagenradgroßen Hüten und Korsetts hin zu fließenden Pumphosen mit Überwurf) und damit das weibliche Körperbild revolutioniert, zeigt so recht, wie sich die Diskurse unterscheiden. Dass mit der Aneignung des Tangos zugleich eine neue Standortbestimmung des Französischen und des Deutschen einhergeht, die implizit dazu beiträgt, dass man zugleich mit einander konkurriert – und nicht mit Argentinien –, ist ein Phänomen, das bislang nirgends in dieser Breite und Tiefe untersucht worden ist. „In diesem Sinne hat die Arbeit Metropolen als Orte der Transformation gezeigt, die jeweils auf ihre Weise auf eine zunehmende globale Verflechtung reagierten“ (S. 200), summiert die Autorin. Zu Recht wurde Langes plausibel strukturierte, klug argumentierende und kompakt darstellende Dissertation mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedruckt. Dass die Arbeit überwiegend deduktiv arbeitet und Zitate mehr zur Würze heranzieht statt sie induktiv auszuwerten, ist für die Lesbarkeit der Darstellung kein Nachteil; das Verfahren mag zugleich dazu animieren, anschließend mit Lust und vertieftem Gewinn weitere Untersuchungen zum Argentinischen Tango hinzuzuziehen. Aus der von Lange gewählten Perspektive gewinnt dann selbst das scheinbar Bekannte überraschend neue Verstehensangebote.
Inhaltsverzeichnis

Kadja Grönke
Oldenburg, 16.08.2015

Dieser Beitrag wurde unter Rezension abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.