Beatrix Borchard: Clara Schumann. Ihr Leben [Claudia Niebel]

Borchard, Beatrix: Clara Schumann. Ihr Leben. Eine biographische Montage. Mit einem Essay der Autorin „Mit Schere und Klebstoff“. – 3., überarb. und erw. Aufl. – Hildesheim: Olms, 2015. – 431 S.: zahlr. Ill. (s/w)
ISBN 978-3-487-08553-1 : € 28,00 (geb.)

Beatrix Borchard, die sich bereits in ihrer Dissertation mit Clara Schumann (Robert und Clara Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Beltz 1985) befasste, hat seit 2002 einen Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg inne. Sie gilt als eine der profiliertesten Vertreterinnen der feministischen Musikwissenschaft und sie beherrscht die Klaviatur der unterschiedlichen Herangehensweisen, Methoden und Publikationsformen bis hin zum Film äußerst virtuos. Virtuos formuliert ist auch der Essay, den Borchard ihrer Montage nachgestellt hat und er ist wesentlich für das Verständnis des Verfahrens als solchem und für ihre Perspektive auf die eigene Disziplin. Anzumerken ist hier noch, dass die 1. Auflage bereits 1991 bei Ullstein erschien und die 3. Aufl. neuere Forschungsergebnisse bzw. neu edierte Quellen berücksichtigt.
Die Gender-Forschung befindet sich nach wie vor in einer Art Hausse und es bedarf sicher vieler – legitimer – Anstrengungen, die Reiseflughöhe beizubehalten, daraus erklärt sich diese – aus meiner Sicht zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftige – Technik. Einer ihrer Ansätze scheint der der „‘suppression‘ als Schlüsselwort feministischer Analyse“ (Rebecca Grotjahn in „Die story der unterdrückten Komponistin“ [= in diesem Fall Fanny Hensel], FZMw Jg. 7/2004, S. 27-45), um der herkömmlichen Biografik einen Kontrapunkt gegenüber zu stellen. Borchard sieht diese in einer Krise vor allem deshalb, weil die im Ergebnis letztlich eindimensionale Aufspaltung in deskriptive Werkgeschichte einerseits und personenfixierte Lebensbeschreibung (das Narrativ vor allem als Disziplin der Populärwissenschaft) andererseits einer zeitgemäßen Biografik zuwiderlaufen. Ihre Kritik richtet sich auch auf die in der Biografik notwendigerweise unvermeidbare Beimischung der Ingredienzen Deutung und Fiktion, die mithin den klaren Blick verstellen und die Konturen einer zu verdeutlichenden Persönlichkeit überlagern. Herkömmliche Biografik sei überdies in den meisten Fällen und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Heroengeschichtsschreibung, männerfixiert sowohl von Objekt- als auch Subjektseite her betrachtet.
Borchard möchte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ihre gender-spezifische Sicht im Amalgam mit einer an sich gar nicht so neuen Verfahrenstechnik (die Rororo-Monografien erscheinen seit Jahrzehnten in ähnlicher Form) verspricht also neue Erkenntnisse auf die zu porträtierende Musikerin und Komponistin, ihre „suppression“, ihre Selbstentwürfe und die Deutungen durch ihre Zeitgenossen. Die Montage-Collage (mit Schere und Klebstoff, d. h. ohne Kommentierung) unter Zuhilfenahme so unterschiedlicher Quellen wie die Tagebucheinträge der Akteure Clara, Robert, Friedrich Wieck, Johannes Brahms, Theodor Kirchner und vieler anderer mehr, Fotos, Gemälde, Konzertplakate, Programme, Briefe, Konzertkritiken, Aussagen aus dem persönlichen Umfeld, zeit- und kulturgeschichtlicher Dokumente in eine chronologische Abfolge gebracht fördert ein spannendes Lebensbild zutage, und die Konturen (s. o.) verfestigen sich und gewinnen an Plastizität. Vom Ergebnis aus betrachtet, erschließt sich mir als Leser-Rezensent also vordergründig ein anderer Zugang zur Person Clara Schumanns, das Lebensbild als eine Art neues Beschreibungsverfahren mit multiperspektivischem Zugriff. Borchard erläutert ausführlich, warum sie das angewendete Verfahren (der Duden definiert die Montage als Kunst des Zusammenfügens verschiedener Elemente zu einem neuen Ganzen) als Kunstform bzw. als legitime musikwissenschaftliche Alternative zur „Retrospektivität jeder Geschichtsdarstellung“ (s. 426) verankert wissen möchte. Sieht man vom respektablen Ergebnis einmal ab, habe ich dennoch Bedenken. Von der Subjektseite her gesehen ist anzumerken, dass sich sicher nicht alle Themen für diese Art Verfahren eignen. Im Falle Clara Schumanns profitiert man als aufmerksamer Leser (Kulturbürger und/oder Konzertgänger, Musiker oder was auch immer) von bereits publizierter Deutung durch die Sichten der – ob berechtigt oder unberechtigt zu kritisierenden – herkömmlichen Geschichtsschreibung mit all ihren Klischees, ihren Fehlern und ihrer Subjektivität. Das Konterfei Clara Schumanns ist immerhin zeitweise in Form des 100-DM-Scheins in das kollektive Bewusstsein vorgedrungen, zahlreiche Filme, gute bis sehr gute „herkömmliche“ Biografien, Features oder Rundfunkdokumentationen, Lexikonartikel haben hierzu ihren Anteil beigetragen. Ihr kompositorisches Werk ist weitgehend ediert. Es bedarf keiner allzu großen Fantasie, sich anhand der nüchternen Fakten ihres tabellarischen Lebenslaufes (am Anfang des Buches) die ganze Tragweite ihrer Lebensleistung zu vergegenwärtigen.
Diese Fakten vorausgesetzt lassen das von Borchard implementierte, künstlerisch wie wissenschaftlich für legitim erklärte Verfahren schlüssig erscheinen, aber eben nur deshalb, weil die – um bei der bildenden Kunst zu bleiben – anderen Schichten wie ein Palimpsest durchscheinen und so erst Plastizität ermöglichen. Die Debatte gleicht ein wenig dem immer wieder auflebenden Diskurs ums Impfen: die Gegner lehnen es u. a. ab, weil die zu besiegende Krankheit verschwunden scheint – in Wirklichkeit profitieren die Impfgegner aber vom Impfverhalten der Vorgänger. Der andere Einwand gegen den Ausschließlichkeitscharakter dieser Art von Lebensbeschreibung besteht darin, dass sich die Kritik der Autorin am subjektiven Zugriff der gängigen HeroInnengeschichtsschreibung gegen sich selbst richtet, denn auch die Auswahl der Quellen und deren Art, Abfolge und Zusammenstellung unterliegt einer nicht zu leugnenden Subjektivität. Insofern ist die skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber einer sinnstiftenden Wahrheitsfindung durch konventionelle Biografik als Konstruktion ebenfalls konstruiert und nicht konsequent genug, auch deshalb weil aus Platzgründen nicht alle Sichtweisen abgebildet werden können, denkt man z. B. an Briefe und ihre Gegenbriefe usw. Die Leitthese des Konstruktivismus geht ja davon aus, dass wir Menschen über keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit verfügen, sondern unsere Erkenntnisse durch eigene Deutung erzeugen.
Als Kunstwerk erfüllt die vorliegende Biografie die ästhetischen Ansprüche über alle Maßen. Als Referenzadresse für stupende Quellen- und Faktenkenntnis über die Protagonistin, ihr zeit- und ideengeschichtliches Umfeld, ihre Familie, kulturelle und topografische Gegebenheiten (Reisen!) und die Rezeptionsgeschichte darf man sich sicher getrost der Deutung der Autorin überlassen, mit den geäußerten Vorbehalten. Und: Die Montagetechnik als neu implementierendes biografisches Verfahren kann nicht alternativ sondern nur additiv zu sehen sein.

Claudia Niebel
Stuttgart, 13.08.2015

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