Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden. 4: Die zweite Hälfte des 20. Jhs. und die Herausforderungen der Gegenwart [Ingeborg Allihn)

Geschichte der Kirchenmusik in vier Bänden / Hrsg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher. Laaber: Laaber, 2011ff (Enzyklopädie der Kirchenmusik ; I/1–I/4)
ISBN 978-3-89007-690-4 (Reihe); nur geschlossen zu beziehen

4. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Herausforderungen der Gegenwart – 2014. – 376 S.: 17 s/w-Abb., 33 Notenbsp.
ISBN 978-3-89007-754-3 : € (geb.)

Dieser vierte und letzte Band ist der Schlussstein für die ambitionierte Geschichte der Kirchenmusik. 67 Autoren, Kirchenmusiker und Theologen, Musikwissenschaftler, Philosophen und andere Sachkundige haben ihn nach allen Regeln der Kunst sorgfältig bearbeitet, so dass sich der am Gegenstand Interessierte umfassend informieren kann. Der vorliegende Band widmet sich der Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Herausforderungen der Gegenwart. In vier Kapiteln wird das Thema erörtert: Aufbruch zu neuen Ufern (ca. 1945 bis zur Gegenwart), gemeint ist bis ca. 2010; Musik der Ostkirchen; Außereuropäische Kirchenmusik; Populäre Kirchenmusik der Gegenwart. Gleichnishaft eröffnet ein eindrucksvolles Foto den vorliegenden Band: die Ruine der Gedächtniskirche in Berlin mit der dicht daneben erbauten >neuen< Gedächtniskirche. Eindrucksvoll wird der schwierige Prozess der Neufindung sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche und ihrer jeweiligen Musik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 geschildert. Ein „Neubeginn so kompliziert wie unausweichlich“ (S.9), schreibt Christoph Krummacher. Da geht es auf protestantischer Seite um den Zusammenschluss bekenntnisverschiedener Landeskirchen, um Liturgieeinheit und um das angestrebte Einheitsgesangbuch, um Agendenbemühungen, um das Kirchenlied als solches, um Gesangbücher und um eine generelle Neuordnung des Gottesdienstes. Letztendlich auch um die Erkenntnis, dass diese und andere Fragen „nicht kirchenamtlich, sondern nur im offenen Diskurs einer Antwort zugeführt werden“ können. (Eckhard Jaschinski/Ch. Krummacher; S. 31) Nicht minder ernsthaft ringt die katholische Kirche um eine neue Gottesdienstordnung, um eine aktivere Beteiligung der Gemeinde, aber auch um die Klärung nach der Beziehung zwischen Liturgie und Kirchenmusik, um die „Spannung zwischen dem liturgisch Vorgegebenen und dem gern Gesungenen“ (S. 31) usw. Wer die komplizierten liturgischen und kirchenmusikalischen Aufbrüche nach 1945 verfolgen will, hier wird er kurz und knapp über ihre wesentlichen Tendenzen informiert. Wie bei den drei Vorgängerbänden sind die Anmerkungen dankenswerterweise wieder auf der dazugehörigen Seite zu finden, genauso wie den einzelnen Kapiteln resp. Unterkapiteln jeweils z.T. umfangreiche Literaturhinweise folgen.
Über musikalische Satztechniken seit 1945, auch und besonders im Zusammenhang mit der Kirchenmusik, informiert ein weiteres Unterkapitel. Hier werden Komponisten und ihre Werke, nach Ländern geordnet, aufgelistet, werden Stilrichtungen wie Fluxus oder Computermusik erörtert, wird die ganze bunte Landschaft der Avantgarde kurz und präzise vorgestellt. Genauso wie auf Werke verwiesen wird, die sich einer eindeutigen stilistischen Zuordnung verweigern, oder auf jene, die sich von der „seriellen Diktatur“ (S. 68) abwandten. Es folgen als >Fallbeispiele< Ausgewählte Analysen: Requiem-Vertonungen von Benjamin Britten, György Ligeti und Bernd Alois Zimmermann. Dem schließen sich kurze Porträts zu Olivier Messiaen (1908-1992), Siegfried Reda (1916-1968), Dieter Schnebel (geb. 1930), Sofija Gubajdulina (geb. 1931), Krzysztof Penderecki (geb. 1933) und Arvo Pärt (geb. 1935) an. Vermerkt werden biographisch relevante Stationen, Stil, Kompositionstechnik, Ästhetik, religiöse Ausrichtung, Stellung der Kirchenmusik innerhalb des jeweiligen Œuvres usw.; außerdem wird auf Ausgaben und einschlägige Literatur verwiesen.
Der Musik der Ostkirchen, also jener Kirchen, die aus den „christlichen ‚Urkulturen’“ (S.145) hervorgegangen und damit den „christlichen ‚Ur-Musik-Kulturen’“ (ebd.) gleichzusetzen sind, ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Historisch wichtige Stationen, von der Teilung des römischen Reiches in einen östlichen und einen westlichen Verwaltungsbereich im Jahr 286 n. Chr. bis zur Änderung der Grenze unter Kaiser Leo III. 732 n. Chr. – ein Faktum, das bis heute zu kirchlichen und politischen Spannungen führt – , werden abgeschritten. Nach wie vor existieren fundamentale Unterschiede zwischen der östlichen und der westlichen kirchenmusikalischen Sprache. In diesem Zusammenhang gibt es kurze Porträts von den einzelnen Musikkulturen, z.B. der antiochenischen, der ost- und westsyrischen, der koptischen und äthiopischen, der byzantinisch-griechischen, -armenischen, -bulgarischen, -rumänischen oder der byzantinisch-russischen. Ferner geht es um die Außereuropäische Kirchenmusik, um Spiritual und Gospel. Ihre historischen Quellen, ihre Entwicklung in Nordamerika, aber auch in Deutschland werden anhand exemplarischer Analysen (mit Notenbeispielen und Hinweisen auf Tonträger und Videobeispiele) in ihren zentralen Aspekten dargestellt. Der Musik in jungen Kirchen gilt ein weiteres Unterkapitel. Um in diesem Zusammenhang zu relevanten Aussagen zu kommen, hatte man einen Fragebogen entwickelt, der u.a. Seelsorgern, Kirchenmusikern, Musikwissenschaftlern, Beobachtern der Situation vor Ort in Afrika, Asien und Mittel- bzw. Südamerika vorgelegt wurde und hier wiedergegeben ist. Verständlicherweise mussten Krisenregionen ausgespart bleiben. „Bei den Antworten“, betont Johann Trummer, „handelt es sich um Momentaufnahmen. Es war wichtig, sie möglichst bald zu erhalten und nicht als Anregung für Forschungsaufträge (nach jahrelangen Wartezeiten) zu verstehen.“ (S. 228) Antworten auf die drei grundsätzlichen Fragen kamen aus Afrika, Amerika (lediglich Kolumbien) und Asien: 1. Wann und wie verlief die Christianisierung; 2. Das Verhältnis von einheimischer Musik und Musik der Missionare; 3. Liturgie, Kathechese und Kirchenmusik heute. Die Antworten werden hier präzise und in ihren unterschiedlichen Wertungen veröffentlicht. Allerdings hätte man sich zum Schluss dieses Kapitels noch ein Resümee der sehr unterschiedlichen Umfrageergebnisse gewünscht.
Das letzte und vierte Kapitel widmet sich der Populären Kirchenmusik der Gegenwart, wobei, betont Peter Bubmann, „wegen ihrer Bedeutung doch vorrangig von Popularmusik in der Kirche zu handeln sein“ wird. (S.294) Es geht ausschließlich um „Phänomene populärer christlicher Musik […], die erst ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss der industriell produzierten und verbreiteten Massen- und Unterhaltungsmusik entstanden“ sind, (S.293) also Sacropop, Gospelrock, Praise & Worship-Musik, meditative Instrumentalmusik u.ä. Der inzwischen in Europa und Nordamerika beheimateten liturgischen Musik aus Taizé ist wegen ihrer Besonderheit ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Im Folgenden wird die Geschichte der Populären Kirchenmusik im west- und ostdeutschen (DDR) Sprachraum referiert, geht es um Ereignisse, Künstler und Gruppen, um Stilrichtungen, Szenen und Gattungen, werden die neuesten Tendenzen, nämlich „Integrationsversuche in die institutionalisierte Kirchenmusik“ (S. 311) beschrieben.
Ein Personenregister und die Autorenbiographien beschließen den Band.

Ingeborg Allihn
Berlin, 05.08.2015

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