Christine Géliot: Mel Bonis. Leben und Werk einer außergewöhnlichen Frau und Komponistin [Claudia Niebel]

Géliot, Christine: Mel Bonis. Leben und Werk einer außergewöhnlichen Frau und Komponistin. – Kassel: Furore, 2015. – 240 S.: Ill. (s/w)
ISBN 978-2-927327-62-7 : € 14,90 (brosch.)

Im Personenteil Bd. 5 der MGG (2001, Sp. 1219-1222) wird Mel Bonis als eine der bedeutendsten Komponistinnen im Frankreich der Jahrhundertwende gewürdigt. Wilhelm Altmann bekundete in seinem Handbuch für Klavierquartettspieler (1937) sein Erstaunen über die Meisterschaft des 1. Klavierquartetts von Mel Bonis, wissend dass sich hinter diesem Pseudonym eine komponierende Frau verbarg. Mélanie Hélène Bonis, verheiratete Mme. Albert Domange (den vollständigen Namen des Ehegatten als eigenen zu führen war nicht nur in Frankreich lange Zeit üblich) hatte bewusst dieses zweideutige Pseudonym gewählt, um ihren Werken, die sie immerhin bei namhaften Verlegern wie Leduc oder Eschig unterbringen konnte, eine bessere Verbreitung zu sichern. Allerdings mag man zu Recht einwenden, dass es – zumal für eine Frau des ausgehenden 19. Jahrhunderts – auch entsprechender Rahmenbedingungen bedurfte, um sich dergestalt positionieren zu können.
Mélanie Bonis war es jedenfalls keineswegs in die Wiege gelegt worden, sich als Komponistin der Anerkennung ihrer Zeitgenossen zu versichern. Sie wird 1858 in Paris in bescheidene Verhältnisse hineingeboren. Der Vater ist Uhrmacher und als Vorarbeiter tätig, die überaus fromme Mutter führt den Haushalt mit eiserner Hand. Die künstlerische Feinsinnigkeit und Intelligenz des Vaters auf der einen und die bisweilen in Bigotterie ausartende Frömmigkeit der Mutter dürften als Erbanlagen auch gleichzeitig die Reibungsflächen gewesen sein, zwischen denen sich Mel Bonis lebenslang bewegt. Die Familie bleibt klein, drei Töchter werden geboren, von denen eine im frühen Kindesalter stirbt. Die den Konventionen damaliger Zeit entsprechend gottesfürchtige Erziehung ist darauf ausgerichtet, möglichst früh eine angemessene Heirat einzugehen und eigene Positionen und Wünsche dem Wohl der Familie unterzuordnen. Im Haushalt befindet sich ein Klavier, und Mélanie, die keinen Unterricht erhält, bringt sich das Spiel selber bei, improvisiert, spielt nach Gedächtnis und vor allem immer perfekter vom Blatt. Gegen elterlichen Widerstand und mittels der Fürsprache von Freunden und Bekannten – u. a. auch César Francks – darf sie mit 18 Jahren ans Pariser Konservatorium. Sie studiert zunächst Harmonielehre und Begleitung, später auch Komposition und Orgel. Etliche erste und zweite Preise in diversen Disziplinen belegen ihren Erfolg, immer misstrauisch von der Familie beäugt. Eine Liebesbeziehung zu einem Mitstudenten, der erfolgslos bei ihren Eltern um ihre Hand anhält, ist der Auslöser für die Entscheidung der Eltern, sie ohne Abschluss vom Konservatorium zu nehmen. Sie wird mit dem 22 Jahre älteren, zweifachen Witwer Albert Domange verheiratet, der fünf Söhne, aber als Industrieller (Lederwaren) auch Vermögen und Sozialreputation in die Ehe einbringt. Mélanie Domange wird selbst noch drei Kinder bekommen und 1899, vor der Familie verheimlicht, eine außereheliche Tochter zur Welt bringen, deren Vater ihr von den Eltern verschmähter ehemaliger Studienkollege ist. Als vielbeschäftigte Mutter steht sie einem großen Haushalt mit vielen Kindern, Hausangestellten und etlichen Familiendomizilen vor und engagiert sich, ihrer christlichen Grundüberzeugung treu auch stark für sozialkaritative Belange. Zeit und Muße zum Komponieren muss sie sich abringen, auch spürt sie mitunter die Zerrissenheit zwischen schöpferischem Ausdrucksbedürfnis und der religiös konnotierten devoten Hausfrauenrolle. Andererseits bietet diese bürgerliche Mimikry, die vordergründig kaum Handlungsoptionen vorhält, ideale Möglichkeiten, ihre unter Pseudonym entstehenden Werke drucken und aufführen zu lassen. Der materielle Hintergrund und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Kontakte ebnen ihr dazu den Weg.
Zur groben Orientierung nimmt die Biographin die Gliederung in drei Schaffensperioden vor: in eine bis ca. 1900, die gekennzeichnet ist von Einfallsreichtum (Gebrauchsmusik für den Salon usw.), stilistischer wie formaler Vielfalt bei gleichzeitig heiterer Grundstimmung. Der lebenslange Konflikt um die uneheliche Tochter, zu der sie sich sehr spät und auch nur innerfamiliär bekannte, die Geheimhaltung der Liebesbeziehung zu deren Vater vor dem Hintergrund religiöser und gesellschaftlicher Schranken waren der Auslöser für eine sehr fruchtbare Schaffenszeit bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, wo sie sich vor allem der Kammermusik, dem Orgelwerk und der Chormusik verpflichtet fühlt. Eine lange kompositorische Pause schließt sich an, bis sie sich von 1929 bis zu ihrem Tod 1937, geplagt von Depressionen, heftigen Migräneanfällen und diffusen körperlichen Leiden vor allem der geistlichen Musik zuwendet. Sie hinterlässt ein umfangreiches, über 300 Werke umfassendes Oeuvre, das weitgehend ediert ist und von berühmten Zeitgenossen (Saint-Saens, Pierné, Debussy u.a.) sowohl geschätzt als auch aufgeführt wird. So gesehen ist die Quellenlage also vielfältig und die Verfasserin der vorliegenden Biographie kann auf zahlreiche Informationen zurückgreifen. Es existieren Beiträge zu einschlägigen Lexika und Anthologien, es gibt gleich mehrere einschlägige Webseiten und ein Kammermusikensemble, das sich den Namen der Komponistin gegeben und damit auch der Aufführung ihrer Werke verpflichtet hat. Abgesehen davon ist dies die erste deutschsprachige Biographie der Komponistin.
Christine Géliot ist eine Urenkelin von Mel Bonis; ihr beruflicher Hintergrund einerseits (sie ist Psychologin und Musikerin) und familiäre Überlieferungen andererseits ermöglichen ihr einen fassettenreichen Zugriff auf Leben und Werk. Die familiäre Verhaftung ist natürlich zugleich Stärke und Schwäche des Buches. Überlieferte Familiengeschichte, Tagebucheintragungen und die Erinnerungen zahlreicher Nachkommen garantieren Authentizität und verleihen dem Titel den Rang einer Primärquelle unter dem Vorbehalt der Subjektivität. Die Informationsdichte ist sehr hoch, schon anhand der dramatis personae wird man schnell verwirrt. Als Leser sollte man daher stets den Finger im Familienstammbaum auf den hinteren Seiten des Buches haben, um die Übersicht nicht zu verlieren. Im Vorwort ausdrücklich erwähnt wird das Faktum, dass Géliot Elemente der Romanbiographie (direkte Rede, vermutete Seelenzustände usw.) mitverwendet, um dem Buch Tiefe zu verleihen. Als Psychologin steht ihr das sicher am ehesten zu, ich halte es nicht für störend, aber verzichtbar. Was nicht erfolgt (und wohl auch nicht intendiert) ist eine wie auch immer geartete historische Verortung des Werkes, der Komponistin in ihrer Zeit oder den kompositorischen Strömungen während des Fin-de-siècle in Frankreich. So bleibt es dem Leser überlassen, sich hörend in ihr Werk zu vertiefen. Die Anhänge sind vorbildlich: es gibt neben anderem ein thematisches und ein alphabetisches Werkverzeichnis, Textanhänge, eine Zeittafel, eine Bibliografie, ein Personenverzeichnis und eine umfangreiche Diskografie, die – Lieferbarkeit oder Vorhandensein in diversen Bibliotheken vorausgesetzt – gezielte Suche nach Hörerlebnissen unterstützt. Aber es gibt auch noch youtube, und das Ensemble Mel Bonis wartet auf seiner Website mit Hörbeispielen auf. Der Furore-Verlag hat es sich vor längerem schon zur Aufgabe gemacht, einzelne Werke neu edieren. Die Entdeckung der Komponistin lohnt sich also allemal und die Lektüre der Biographie trotz einiger Vorbehalte auch!

Claudia Niebel
Stuttgart, 26.05.2015

Dieser Beitrag wurde unter Biographie, Bonis, Mélanie (1858-1937), Franck, César (1822-1890), Komponistin, Rezension abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.