Julia Heimerdinger: Sprechen über Neue Musik. Eine Analyse der Sekundärliteratur und Komponistenkommentare [ Markus Bandur]

Heimerdinger, Julia: Sprechen über Neue Musik. Eine Analyse der Sekundärliteratur und Komponistenkommentare zu Pierre Boulez’ Le Marteau sans Maître (1954), Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1956) und György Ligetis Atmosphères (1961). – Berlin: epubli, 2014. – 324 S.: s/w-Abb., Bibliographie
ISBN 978-3-8442-8223-8 : € 33,89 (kart.; auch als Ebook)

Die Neue Musik der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zählt unbestreitbar zu den großen Herausforderungen des Musikhörens. Zwar besitzen die bedeutenden Werke dieser Zeit mittlerweile einen gewissen Kultstatus und haben ein treues, wenn auch kleines Publikum; die kompositorische Faktur scheint jedoch bislang eine Rezeption durch breitere Zuhörerkreise weitgehend abzuweisen. Ob dafür primär eine an der tonalen Musiksprache ausgerichteten Hörhaltung verantwortlich ist oder ob vielmehr die avantgardistischen Werke dieser Jahre verstärkt einen insbesondere von den Gräueln des Zweiten Weltkriegs geprägten Erfahrungs- und Empfindungsbereich umschreiben, den Zuhörer somit ganz bewusst mit einem dem ‘romantischen’ Musikdenken entgegengesetzten Ausdrucksbereich konfrontieren wollen, ist unklar.
Klar ist nur, wie Hörer diese Musik wahrnehmen, wenn sie sich dazu äußern. Denn in jedem Sprechen über Musik findet eine Umwandlung eines begriffslosen, musikalischen Sachverhalts in eine sprachliche und damit begriffliche Information statt. Das jeweils verwendete Vokabular führt dadurch unumgänglich eine weitere Sinnebene ein, die für die Untersuchung der Rezeption von Musik von Bedeutung ist: Die Wortwahl lässt grundlegende affektive und psychische Einstellungen und Bewertungen erkennbar werden, die Rückschlüsse auf die beim Hören ausgelöste Erlebniswelt ermöglichen.
Die vorliegende Arbeit, die als Dissertation an der Universität Halle eingereicht wurde, nimmt von diesem Ansatz her die Sekundärliteratur zu drei frühen Schlüsselwerken der Neuen Musik (Boulez’ Le Marteau sans Maître, Stockhausens Gesang der Jünglinge und Ligetis Atmosphères) in den Blick und erfasst die der Rezeption zugrunde liegenden semantischen Felder. Ausgehend von kurzen Werkeinführungen und Beschreibungen der Texte werden anhand der aufgeschlüsselten Semantiken sprachliche Auffälligkeiten und insbesondere signifikante Häufungen im Vokabular thematisiert und die Befunde interpretiert. So erfolgt im Fall von Stockhausens Gesang der Jünglinge eine Rubrizierung der semantischen Felder in der Rezeption nach den Kategorien „Gewalt, Zerstörung“, „Macht, Autorität“, „Maschine und Natur“, „Rätsel“, „Synthese“, „Welt, Universum“ und „Schönheit“.
Das computerbasierte Verfahren mit dem Programm MAXQDA, das zur Erstellung der Daten, d. h. der quantitativ gewichteten Wortfelder, herangezogen wurde, steht dabei im Fokus der Arbeit, während die Ergebnisse demgegenüber weitaus mehr als Probe aufs Exempel zu bewerten sein dürften. Von daher lässt sich durchaus eine Parallele zu vergleichbaren Arbeitsweisen in anderen Bereiche der Geisteswissenschaften ziehen, wie etwa den von Franco Moretti seit geraumer Zeit durchgeführten computergestützten quantitativen Untersuchungen zu sprachlichen Besonderheiten in der europäischen Literatur. Insofern stellt sich die Frage, ob die hier erstmals in diesem Umfang durchgeführte automatisierte Zerlegung und semantische Kategorisierung von Textmengen im Bereich der Musik (die Ergebnis-Diagramme umfassen mehr als 100 Buchseiten), mehr leisten kann als herkömmliche Verfahren in der Auseinandersetzung mit Rezeptionsdokumenten. Abzuwägen ist hier zwischen dem ‘Instinkt’ des Forschers, der gewichtend und notwendigerweise selektiv die Quellen zur Rezeption untersucht und aus häufig nur punktuellen Befunden weitreichende Schlüsse ziehen muss, auf der einen Seite und der maschinellen ‘Unerbittlichkeit’, die erst einmal keine kategorialen Differenzen der Textsorten oder der Autoren berücksichtigt, dafür aber klaglos Textmengen zu klassifizieren vermag, deren Umfang von menschlichen Bearbeitern schon zeitlich nicht in vertretbarem Maße zu bewältigen wäre, auf der anderen.
Der Vorteil einer solch umfassenden Erhebung von sprachlichen Daten liegt allerdings selbst angesichts des hier untersuchten ‘kurzen’ Zeitraums von ca. 60 Jahren auf der Hand: Die Ergebnisse bilden einen ersten, wichtigen Schritt, um davon ausgehend belastbare Aussagen über die Konstanten und Wandlungen in der Rezeption der untersuchten Kompositionen und der Musik ihrer Zeit machen zu können. Es steht zu vermuten, dass die vermehrte Erhebung solcher sprachlicher Daten über längere Zeiträume zu einem vertieften Verständnis von Musikhören und Musikverstehen führen wird.
Das Buch steht auf auch online auf dem Server der Universität Halle als PDF zur Verfügung.

Markus Bandur
Berlin, 18.05.2015

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