Zwischen Smartphone und Konzertsaal. Vom „Wert der Musik“ auf den 14. Potsdamer Kulturgesprächen [Peter Sühring]

Zwischen Allem und Nichts.
Vom „Wert der Musik“ auf den 14. Potsdamer Kulturgesprächen der Konrad-Adenauer-Stiftung, Potsdam 7.‑8.11.2014

Am zweiten Tag der nun schon zum 14. Mal stattfindenden kulturpolitischen Gespräche der Konrad-Adenauer-Stiftung ging es diesmal unter dem Motto: Zwischen Smartphone und Konzertsaal um die Frage, was uns Musik wert sei. Unter der unermüdlichen und stets pointenreichen Moderation von Norbert Lammert, seines Zeichens Präsident des Deutschen Bundestages, hatten sich auf dem Podium der Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Christian Höppner, der Bundesvorsitzende des Verbandes Deutscher Schulmusiker, Ortwin Nimczik, der Intendant des Südwestrundfunks, Peter Boudgoust, die Dekanin der Fakultät I der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, Anne-Kathrin Lindig und der Intendant der Berliner Staatsoper, Jürgen Flimm, versammelt, um ihre diskussionswürdigen Statements abzugeben, während im Saale eine illustre Versammlung von kulturpolitisch aktiven oder interessierten, aber nicht unbedingt parteipolitisch gebundenen Angestellten und Privaten, Funktionären und Künstlern saß, um zu reagieren. Immer wieder mal verspürte man (besonders am Vortage, als es um allgemeinere kulturpolitische Brennpunkte ging) einen gewissen parteipolitischen Dünkel, als wären außerhalb der Unionsparteien nur Kulturbanausen zugange – wofür allerdings der aktuell durch die nordrheinwestfälische Ministerpräsidentin betriebene Verkauf zweier Warhol-Bilder aus dem Besitz der landeseigenen Bank zur Rettung einer ebenfalls landeseigenen Spielbank den ständigen Bezugspunkt abgeben konnte. Spürbar war und positiv vermerkt wurde, dass die Kulturschaffenden, auch gerade bedrängte und bedrohte Musiker, immer politischer würden. Was nützt das, wenn auch unter Unionspolitikern die gesamtgesellschaftliche Tendenz, dass die Menschen trotz (oder wegen?) ständiger Musikberieselung immer unmusikalischer werden, zunimmt?
Am Vortag wurde vereinzelt der bedrohliche Verfall kultureller Bildung im Allgemeinen und der musikalischen im Besonderen aufgezeigt und gefragt, ob die Wurzel dafür nicht der mangelnde elementare Unterricht in den kulturellen Traditionen sein könnte, ob wir nicht eine Bundeszentrale für kulturelle Bildung bräuchten, ob wir nicht zusätzlich zu den Konferenzen der Bildungs- und Wissenschaftsminister eine der Kultusminister zu kulturellen Themen bräuchten, um solchen Phänomenen wie denen, dass Kinder und Jugendlichen keine Ahnung mehr von der vergangenen Kultur in Deutschland hätten oder dass der Denkmalschutz in NRW auf Null gefahren würde, begegnen zu können. Auch wurde gefragt, wie lange die einzigartige Theater- und Orchesterlandschaft noch bestehen würde und ob und wie angesichts massiver Kürzungen auf Landesebene eine gemeinsame Gegenwehr möglich wäre und welche Hilfe in dieser Hinsicht vom Bund zu erwarten sei – Fragen, auf die auch vonseiten der Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, hauptsächlich auf die Heilige Kuh der föderativen Kulturzuständigkeit verwiesen wurde, bei gleichzeitigem Lob für einzelne wenige engagierte (meist schuldenfreie) Kommunen. Seltsam schwach waren dann auch die Anzeichen einer gemeinsamen Gegenwehr gegen die akute Liquidierung eines weltweit berühmten Orchesters für zeitgenössische Musik, des Sinfonieorchesters Baden-Baden des SWR, die dessen Intendant dann am zweiten Tag erstaunlicherweise ziemlich erfolgreich verteidigen konnte.
Die Musik-Diskussion des zweiten Tages wurde von Christian Höppner eröffnet mit einem zunächst absichtlich allgemein gehaltenen und (wie auch Nobert Lammert fand) relativ harmlosen Darstellung der sich zügig verschlechternden Rahmenbedingungen für Musikförderung in deutschen Landen, wobei immer das Phantom einer in Sachen Musik besonders führenden Kulturnation Deutschland im Hintergrund stand.
Da legte Ortwin Nimczik vom Verband Deutscher Schulmusiker den Finger schon etwas genauer und tiefer in die Wunden und verwies auf die anhaltenden Mängel des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen. Zwar würden die relativ hohen Kosten der Musiklehrerausbildung durchaus nicht gescheut, aber der Status des Musiklehrers in den Schulen als unabdingbarer Wertevermittler und seine allgemeine Reputation seien so schlecht, dass er meist vor der schlechten Ausstattung der Schulen für den Musikunterricht sowie vor den Tatsachen, dass Musik kein Pflichtfach mehr sei und er ständig für außermusikalische Aufgaben herangezogen werde, kapitulieren müsse. Ohne Chor- und Orchesterarbeit, ohne Ensemble-Leitung habe der Musiklehrer zwar eine hervorragende Ausbildung, aber keine dementsprechende spätere Praxis mehr. Positiv sei zwar die Ausbildung der Musiklehrer an jenen Hochschulen, an denen auch die praktische Musik in künstlerischen Fächern gelehrt werde, aber die Ausbildung müsste viel mehr die Bedürfnisse an den Schulen berücksichtigen. Es fehle ein Gesamtkonzept musikalischer Bildung, denn die Schadenbegrenzung oder -beseitigung in nur einer der Säulen des Musiklebens sei fraglich. Dass man in diesem Zusammenhang eventuell auf frühere umfassende Reformkonzepte wie die sozial-liberalen preußischen eines Leo Kestenberg wenigstens teilweise zurückgreifen könnte, wurde weder befürwortend noch abwehrend erwähnt.
Anne-Kathrin Lindig verwies auf die idealistische Grundhaltung der Studierenden und Absolventen der 24 Musikhochschulen in Deutschland, allerdings auch auf die Tatsachen, dass in einzelnen künstlerischen Fächern von vielen Bewerbern nur wenige aufgenommen werden könnten und dass die späteren Berufsaussichten in den künstlerischen Berufen schlecht seien. Nur noch ein Drittel der Bewerber seien Deutsche, aber zwei Drittel der Ausbildungsplätze könnten mit Deutschen besetzt werden, wobei allein die Qualität des Vorspiels und nicht die Herkunft ausschlaggebend sei für die Auswahl. Sie bewundere zwar die Leidensfähigkeit der Musiker, aber sie beklagte auch, dass die Musiker im öffentlichen Leben keine so starke Lobby hätten wie beispielsweise die Freizeitkultur (hier wurde wieder auf das mehrfach angesprochene Bonner Beispiel verwiesen, dass im Notfall bei knappen Finanzen für das Schwimmbad aber gegen die Oper votiert würde). Man ginge zwar auf die Barrikaden, wenn der Mathematikunterricht ausfällt, den Ausfall des Musikunterricht nehme man aber gleichgültig hin. Von den leidensfähigen Künstlern der so genannten Freien Szene war bis auf eine Ausnahme, die sich auch entsprechend zu Wort meldete, niemand anwesend, der auf das wirklich unerträgliche Leben zwischen Künstlersozialkasse und Hartz IV, das die Mehrheit betrifft, hätte hinweisen können. In aller Regel sind die studierten Kulturmanager, die alles im Griff haben, ausschließlich an Stars interessiert.
Ein Kunststück rhetorisch geschickter und offenbar wirksamer Selbstverteidigung eines bekennenden konkreten Musikverhinderers in der Gestalt eines bekennenden Musikförderers lieferte Peter Boudgoust als Intendant des SWR. Er wollte erläutern, was ihn und den hinter ihm stehenden Rundfunkrat bei der Fusion zweier der jetzt noch drei sinfonischen Klangkörper der südwestdeutschen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt bewegt hätten, welche nicht gangbaren Alternativen bestanden hätten und warum es keinen anderen Weg gegeben hätte. Mit der suggestiven Fangfrage, ob er statt der Fusion der beiden Orchester den Sender in die Insolvenz hätte führen sollen, widersprach er sich selber und leistete eigentlich das Gegenteil seiner geäußerten Absicht. Die erwähnten anderen Streichungen in den Bereichen von Hörspiel und Spielfilm betrafen zwar andere Kultursparten des Senders, nicht aber andere publizistische Schwerpunkte wie Politik und vor allem Sport, über deren angebliche Unantastbarkeit oder gar Ausbaubedürftigkeit er kein Wort sagte. Die Katze aus dem Sack ließ er aber dann doch mit dem Hinweis darauf, dass neben der aktuellen Publizistik der Unterhalt von Orchestern nicht zu den Pflichtaufgaben des Senders gehöre, sondern eine zusätzliche, historisch gewachsene Aufgabe sei, deren Stellenwert früher, bei Gründung der Orchester ein viel größerer gewesen sei als heute. Hier dürfen also plötzlich historisch gewachsene, einzigartige Institutionen plötzlich im Notfall preisgegeben werden. Der Notfall wurde pauschal mit wachsenden Ausgaben (wofür?, es werden doch nicht etwa die obszönen Intendantengehälter gemeint gewesen sein?) und sinkenden Einnahmen (sollte die neue Gebührenordnung nicht das Gegenteil bewirken und auch bewirkt haben?) heraufbeschworen. Gleichzeitig prunkte und prahlte Boudgoust aber mit der geleisteten Musikförderung in anderen konkreten Projekten (: ohne Baden-Baden dann immer noch fünf Klangkörper, fünf Festivals – darunter Donaueschingen, Attacca und Eclat für zeitgenössische Musik) und malte die exzellente Ausstattung des künftigen fusionierten Sinfonieorchesters (inkl. digitaler Konzerthalle) in solchen Farben an die Wand, dass einem schon Angst und Bange wurde, ob dessen Kosten nicht den Unterhalt der bestehenden zwei Orchester bald übersteigen könnten. Aus der Sicht des Berichterstatters bleibt es weiterhin die falscheste aller denkbaren Entscheidungen, ausgerechnet den bedeutendsten Klangkörper des Sendegebiets „nach reiflicher Überlegung“ zu liquidieren und dann auch noch zu behaupten, es sei keine Prioritätenentscheidung gewesen.
Jürgen Flimm lenkte als Opernintendant zunächst den Blick weg von dem „Großsystem“ Oper, und fragte, von welcher Musik hier eigentlich die Rede sei. Man dürfe gegenüber der so genannten „Klassik“ doch wohl den erfolgreichsten Bereich der Musik, die Popmusik, die heute in Stadien und Clubs spiele, nicht ausklammern, und der erforderliche erweiterte Musikbegriff läge jenseits der Kisten E und U. Nicht nur outete sich Flimm hier als Verehrer von Lady Gaga (was nur für seinen aparten Geschmack auf diesem Gebiet spricht), sondern er outete auch seinen Generalmusikdirektor Barenboim und das Zustandekommen von Spielplanschwerpunkten als Luxussubjekte (Barenboim wollte eine neue Tosca, damit auch er sie erstmals dirigieren könne). Dann lenkte er den Blick auf die Musikrezipienten und deren Niveau und äußerte den Wunsch nach neuen Formen der Musikvermittlung für Kinder und durch intensive Jugendarbeit, wobei er auf den bundesweit einmaligen Musikkindergarten der Staatsoper verweisen konnte. Musikvermittlung sei heute entscheidend der Eigendynamik des Musikmarktes auf den Sektor des Streaming überlassen. Wir hätten dort so viel Musik wie nie zuvor, aber es gäbe dort neben Klassik und Moderne viel Gedudel, Event-Musik und von visueller Performanz abhängige Präsentation. Auf die Folge einer jetzt schon erkennbaren Entmusikalisierung der Hörer bei permanenter Musikberieselung wollte Flimm aber nicht wirklich zu sprechen kommen.
Im Rahmen des dem Gespräch gewidmeten Teils der Kulturgespräche kam es zu folgenden Stellungnahmen und Repliken der Referenten. Am meisten wurden (und dies zu Recht) die musikpädagogischen Basisfragen erörtert. Es gab ein Plädoyer gegen die schleichende Formierung eines neuen Fachs, das sich als allgemein musisch-ästhetisches etablieren und das Spezielle an der Musik auflösen könnte; man müsse aber daran festhalten, dass nur auch musikalisch ausgebildete Menschen gute Musiklehrer werden könnten. Tatsächlich näherten wir uns der Liquidierung des Faches Musik an den Schulen. Wir hätten heute fast nur noch Hilfs-Musiklehrer, denn nur noch 6% der Musik unterrichtenden Lehrkräfte hätten eine musikalische Facultas. Echte Musiklehrer fehlten weitgehend und es gäbe eine Tendenz dem Mangel dadurch abzuhelfen, dass der Musikunterricht schon ab der 6. Klasse einfach ausgesetzt werde. Es sei ein bedenklicher Zustand, dass in der viertreichsten Industrienation der Erde 80% des Musikunterrichts ausfielen und dass der Musiklehrermangel an Musikschulen zu langen Wartelisten führe.
Es wurde angeregt, statt des steigenden Imports von Musikstudenten aus dem Ausland lieber mit unseren Institutionen ins Ausland zu gehen und dort zu wirken. Die Qualität der deutschen Musikhochschulen wurde dabei stets als ein „Alleinstellungsmerkmal“ Deutschlands betont resp. behauptet. Für eine Anwesenheit ausländischer Studenten direkt im kulturellen Umfeld der deutschen Musikkultur wurden Gründe sentimentaler Art ins Feld geführt, die allerdings angesichts der internationalen Nivellierung dieser Standards fragwürdig geworden sein dürften. Erinnert wurde in diesem Zusammenhang auch an die Tatsache, dass in dem zusammengebrochenen Bildungssystem der DDR es immerhin ein durchaus nachahmenswertes Phänomen gegeben habe wie eine obligatorische Festanstellung von Musikpädagogen an Musikschulen für die Elementarausbildung.
Seltsam berührte ein Betrag von Siegfried Matthus, der drauf hinaus wollte, dass nur die Kenntnis, d.h. schulische Vermittlung der nationalen Traditionen der Musik dazu führen könnte, dass die Jugend in Deutschland überhaupt noch wisse, wer Bach und Beethoven waren und was sie vollbracht hätten, und dass es nicht nur englischsprachige Songs oder solche in einem zerknautschtem Deutsch gäbe. Darauf waren Repliken wie einerseits von Lammert, wenn man Jomelli höre, wisse man doch, wo ein Mozart abgekupfert hätte oder von Flimm, der Stil der Oper sei eben auch schon in früheren Jahrhunderten von Neapel bis Wien einheitlich italienisch gewesen, schon mal ganz hübsch, denn der kosmopolitisch und unterhaltungsmusikalisch eingestellte Mozart zieht immer, aber auch und gerade an den Beispielen Bach und Beethoven ließe sich musikhistorisch ins Feld führen, dass der eine sehr wohl wusste, was er den Italienern und Franzosen verdankte (seine Notenbibliothek beweist es) und der andere sehr wohl wusste, was er Cherubini und Méhul schuldig war. Die von Matthus vermutlich gemeinten Kompositionsformen sind allesamt nicht von Deutschen erfunden, sondern allenfalls mit deutscher Gründlichkeit gesteigerte und perfektionierte Techniken einer vergangenen gesamteuropäischen Musikkultur gewesen. Diese war allerdings keine Einheitskultur, sondern eine lebendige Kultur der Vielfalt, die gleichzeitig nationale Idiome oder Personalstile zuließ, wenn sie auch manchmal, wie die nordischen oder slawischen Idiome, mühsam und spät erst erkämpft werden konnten. Sollte es sein, dass es immer noch speziell in CDU-Kreisen am schwierigsten ist, solche Erkenntnisse durchzusetzen?
Malte C. Boecker vom Bonner Beethoven-Haus registrierte die Tatsache, dass sich die Rollen von Mainstream und Subkultur zwischen Klassik und Pop inzwischen ausgetauscht hätten und plädierte dafür, staatlich-öffentliche Musikförderung als eine Investition in einen immateriellen Kulturwert zu betrachten, denn nirgends so wie in der Musik sei z.B. zu lernen, was komplexe Verhältnisse sind. Als immer gewichtiger werdendes Problem geisterte durch viele Beiträge der Gedanke an die Gefahr einer zunehmend sekundären Musikvermittlung, bei der die Verbreitung von Musikaufzeichnungen über Streamdienste authentische Musikerfahrung verdrängt und trotz ständiger Musikkulisse kein wirkliches Zuhören mehr stattfindet.
Herr Boudgoust wollte zwar auf die auch angesprochene Frage der rechtlich nicht zugänglichen ARD-Musikarchive und auf die Forderung, diese für die Nutzung freizugeben, nicht eingehen, zeigt sich aber zuversichtlich, dass die von ihm weiterverfolgte Orchesterfusion glücken könnte, wie das Beispiel der heutigen Radiophilharmonie Kaiserslautern-Saarbrücken zeige. Auch vertraue er auf die zukünftige Flexibilität im Profil des künftigen fusionierten Orchesters in Stuttgart, das sich unter verschiedenen Spitzendirigenten für Klassik und Moderne gleichermaßen als äußerst kompetent erweisen werde.
Das Schlusswort Nobert Lammerts unterstrich, dass über die Anerkennung der Musik als öffentlicher Aufgabe allgemeiner Konsens herrsche und dass auf dieser gemeinsamen Grundlage die Diskussion über Defizite stattgefunden hätte. Um zu einheitlichen Rahmenbedingungen zu kommen, seien die Verhältnisse auf föderativer und kommunaler Basis allerdings zu unterschiedlich. Sein scherzhaftes Eigenlob der Potsdamer Kulturgespräche mündete in der Formel, sie seien nun doch inzwischen ECHO-Klassik-Preis-würdig geworden.

Peter Sühring
Berlin, 09.11.2014

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