Sabine Giesbrecht: Musik und Propaganda [Freia Hoffmann]

Giesbrecht, Sabine: Musik und Propaganda. Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Bildpostkarten. – Osnabrück: epOs, 2014. – 280 S.: zahlr., meist farbige Abb. (Beiträge zur Medienästhetik der Musik ; 14)
ISBN 978-3-940255-51-8 : € 34,90 (kart.; auch als e-book)

Schon lange hat mich kein Buch mehr so fasziniert wie dieses: Allein das Material, Musikpostkarten mit ihrer mehrdimensionalen Botschaft von Text, Abbildung, Symbolik und Klang, ist ein Glücksfall für kulturgeschichtliche Analysen und eröffnet Einblicke in eine dramatische Welt von Kriegsgeschehen, persönlichen und kollektiven Extremerfahrungen, Propaganda und nationaler Selbstvergewisserung. Was das Buch aber vor allem prägt, ist seine Autorin, die das Material überaus kenntnisreich anordnet, analysiert und bewertet – in einer flüssigen, präzisen und dennoch anschaulichen Sprache, in einer guten Verbindung von politischer Analyse und einfühlsamer Nachzeichnung der Nöte und Bedürfnisse derjenigen, die den Krieg an der Front oder in der Heimat erlebten.
Sabine Giesbrecht, emeritierte Professorin für historische Musikwissenschft an der Universität Osnabrück, hat seit den 1980er Jahren etwa 15.000 Bildpostkarten aus den Jahren 1895 bis 1945 gesammelt und sie 2010 der Universität Osnabrück übereignet, wo sie unter www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de einsehbar und wissenschaftlich nutzbar sind. Die vorliegende Publikation behandelt eine Auswahl aus etwa 4.500 Karten, die zwischen 1914 und 1918 als Feldpost gelaufen sind. Im ersten Kapitel „Liedillustrationen“ werden Karten präsentiert, die – oft nur in Form eines Titels oder einer Liedzeile – das Liedrepertoire breiter Bevölkerungsschichten aufgreifen, zitieren, manchmal auch uminterpretieren: Ich hatt‘ einen Kameraden, Nach der Heimat möchte ich wieder, Wenn ich ein Vöglein wär, Du, du, liegst mir im Herzen, Am Brunnen vor dem Tore, Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, Leise zieht durch mein Gemüte u. ä. Aufschlussreich ist die Gegenüberstellung von Karten zum selben Text, wenn z. B. am Wanderlied Hinaus in die Ferne, deutlich wird, mit welchen Mitteln Hersteller von Feldpostkarten „dem aktuellen Krieg Einlass in eine Liedillustration“ verschaffen (S. 74). Das zweite Kapitel thematisiert „Weihnachten im Felde“, „Unterhaltung“, „Lieder verschiedener Truppengattungen“, „Sterben“ und „Männer“, beginnend mit eher kitschigen Mitteln, dem Kriegsweihnachten im Schützengraben oder zu Hause rührselige oder humoristische Seiten abzugewinnen, und abschließend mit den pathetischen und oft hilflosen Versuchen, mittels Bildpostkarten Soldaten und ihren Angehörigen bei der Bewältigung von Todesangst, Sterben und Abschied zu helfen. Ein drittes Kapitel „Das Lied als Mittel politischer Propaganda“ greift in Exkursen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück und zeichnet mit den historischen Anleihen der musikalischen Kriegspropaganda (Befreiungskriege, Wacht am Rhein, Hindenburg) die ganze unheilvolle Tradition deutscher Kriegsbegeisterung und die – oft missbrauchte – gemeinschaftsbildende Funktion der Musik nach.
Die Bildpostkarten, die in erstaunlich guter Druckqualität und geradezu virtuoser Seitengestaltung in den Text eingefügt sind, werden ergänzt durch Auszüge aus Briefen und zeitgenössischen Publikationen. Die detaillierten Bildbeschreibungen und -erläuterungen werden kaum beeinträchtigt durch zwei kleine Fehler: Auf S. 76 sieht man am oberen Bildrand kein „Mädchen“ (S. 78), sondern einen mit Anzug bekleideten Mann, und S. 90 handelt es sich bei der floralen Dekoration nicht um Rosen, sondern um Vergissmeinnicht – botanisch vielleicht nicht von Belang, wohl aber im Hinblick auf die Symbolik.

Freia Hoffmann
Bremen, 10. 11. 2014

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