Vor zehn Jahren: Udo Jürgens und Michaela Moritz: Der Mann mit dem Fagott

Jürgens, Udo und Michaela Moritz: Der Mann mit dem Fagott. – München: Limes, 2004. – 702 S. : Ill.
ISBN 3-8090-2482-1 : € 24.90 (geb.)
seit 2011 als Taschenbuch ISBN 978-3-8090-2600-6 :  € 14,99; auch als e-book.

Was ist denn in die Lambrecht gefahren, werden sich einige von Ihnen fragen; seit wann interessiert die sich denn für Schlager? Das kam so:
Im Herbst letzten Jahres [2003!] kam ich mit meiner Freundin an einem Plakat für die neue Udo-Jürgens-Tournee vorbei. „Guck mal, der singt immer noch“ sagte ich. Kurz vorher hatte erst die Nachricht, dass er seit 1999 heimlich verheiratet sei, für eine willkommene Abwechslung im Spätsommerloch der Presse gesorgt. Und, von einem plötzlichen Anfall von Nostalgie überfallen, sagte ich so „Den würd’ ich gern mal live hören.“ „Da kriegste mich net mit hin“, sagte meine Freundin, die sonst ohne mit der Wimper zu zucken, abends eben mal über 100 km pro Strecke zu einem Konzert fuhr. Na ja, ich bestellte trotzdem zwei Karten – keine Chance mehr, die Köln-Arena war seit Wochen ausverkauft. Na, ja, das war’s wohl!
Schnitt - Januar 2004: Das Telephon klingelt, eine Kollegin ist am Apparat: „Ich hab’ was für Sie!“ Ich stehe auf dem Schlauch. „Zwei Karten für das Wiederholungskonzert von Udo Jürgens; Sie hatten doch damals keine mehr gekriegt“ An diesem tristen Büromorgen falle ich der Frau bald durchs Telephon um den Hals! Kurz darauf ruft meine Kollegin Gaby an. „Stell’ Dir vor, was ich gerade bekommen habe!“ Ich erzähle ihr begeistert „UDO JÜRGENS?! Da gehst DUUU hin?!“ Entsetzen klingt aus ihrer Stimme. Nach einiger Zeit kommt ganz unvermittelt so nebenbei die Frage „Hast Du schon jemand für die zweite Karte?“ Also gebongt, wir ziehen zusammen los und verabreden uns am Deutzer Bahnhof.
Am Konzertabend am Sechtemer Bahnhof: Der Bahnsteig steht voller Oldies, überwiegend weiblichen Geschlechts, wir steigen ein, der Zug ist voller Oldies, so im Alter meiner Eltern – halt die Generation von Udo Jürgens – in Brühl kommt noch mal ein ganzer Schwung rein; ALLE reden darüber, wie man wohl vom Deutzer Bahnhof am besten zur Kölnarena kommt! Kurz vor dem Kölner Hauptbahnhof klingelt mein Handy, Gaby ist schon in Deutz. „Gaby, flüstere ich ins Handy „wir sind mit Abstand die jüngsten heut abend…“ Das waren wir dann aber nicht, wie sich zeigen sollte. Die Kölnarena war wieder fast ausverkauft, und von 16 bis 90 waren alle Alterstufen vertreten. Udo Jürgens betrat die Bühne, mit einer dicken Erkältung, wie er sich gleich entschuldigte, aber, was hat der Mann anschließend (mit fast 70 Jahren) auf die Bühne gelegt! Phänomenal! Die Akustik war, wie meist in der Kölnarena, unter jeder Kritik, so dass am besten seine Stücke nur mit eigener Klavierbegleitung rüberkamen. Bei den Oldies, die er erst spät und nur in einem Medley brachte, hielt es uns sehr zum Ärger der hinter uns sitzenden nicht mehr auf den Stühlen, wir mussten aufstehen und aus Leibeskräften mitsingen, und Gott-sei-Dank hatte ich mir noch von meinem Sohn einen fluoreszierenden Stab zu Schwenken geliehen! Und dejà vu, die Zugabe gab er im weißen Frottee-Bademantel – ich fühlte mich Jahrzehnte jünger. – Beim Verlassen der Kölnarena bekam jeder vom sponsernden Baumarkt eine Rose der neuen Züchtung Mercie Cherie geschenkt – Straßenbahnen, Hauptbahnhof und der Zug nach Bonn über Sechtem waren anschließend voll von begeisterten Konzertbesuchern, die man gleich an der Rose erkannte…

… Und so kam es, dass ich mich sofort nach dem Erscheinen auf den Mann mit dem Fagott gestürzt und voller Skepsis mit der Lektüre des dicken Wälzers begonnen habe.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Es hat sich gelohnt!
Über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren, über drei Generationen hinweg, erzählen Udo Jürgens und die Coautorin die Geschichte der Familie Bockelmann. Großvater Heinrich wandert 1891 als 21jähriger von Bremen nach Moskau aus, um dort eine Existenz zu gründen. Er arbeitet sich hoch bis zum Teilhaber eines angesehenen Bankhauses, verkehrt in höchsten Kreisen, während des 1. Weltkrieges muß die Familie fliehen. Heinrich wird zunächst gefangengenommen, kann dann aber auch fliehen. Es geht weiter in den 40er Jahren: Heinrichs zweiter Sohn (von fünfen) Rudi lebt mit Frau und drei Söhnen (der mittlere von ihnen Jürgen, der spätere Udo Jürgens) als Gutsherr auf Schloß Ottmanach in Kärnten. Rudi ist Bürgermeister der kleinen Gemeinde. Udo Jürgens schildert die hier Erlebnisse aus der Sicht eines Zehnjährigen. Er ist ein schmächtiges, häufig kranker Junge, der stolz ist, endlich beim Jungvolk aufgenommen zu werden. Bereits das erste Pimpfentreffen endet mit einem Fiasko; wegen unpassender Antworten schlägt der Jungzugführer ihn so heftig, daß sein Trommelfell zerfetzt ist. Unter den Folgen dieser Mißhandlung leidet er bis heute. Im Januar 1945 flieht die Familie über Berlin zu Onkel in die Lüneburger Heide. Bei seiner Rückkehr nach Ottmanach wird Rudi von der Gestapo als Deserteur verhaftet und inhaftiert.
Parallel wird die Geschichte von Rudis Bruder Johann erzählt, der fünf Jahre in einem Kriegsgefangenenlager im Ural inhaftiert war. – Jürgen zieht sich ans Klavier zurück und verarbeitet dort seine Eindrücke, selbst den Klang von Bombenangriffen kann er so imitieren, daß seine Mutter ihn auffordert, damit aufzuhören.
Und das Klavier ist bis heute seine Therapie für alle Krisen des Lebens geblieben. Natürlich wird auch die Geschichte von Udo Jürgens erzählt, von den mühseligen Anfängen als Barmusiker mit eigener Combo, der um die Anerkennung seiner Eltern kämpfen muß, die ihn lieber als E-Musiker gesehen hätten. Als er endlich den Rat seiner ehemaligen Freundin beherzigt, seine eigenen Kompositionen zu singen und nicht das, was andere ihm vorsetzen, und als er einen geeigneten Manager findet bzw. dieser ihn, geht es aufwärts. Nach guten Platzierungen in den Vorjahren gelingt ihm 1966 der sensationelle Durchbruch als Sieger beim Grand Prix d’Eurovision mit Mercie, Cherie. Von da an geht’s (bis auf kleinere Rückschläge) stetig bergauf, und sein Erfolg hält bis heute an. Selbstverständlich erfährt man auch, wie es zu dem „Bademantelritual” kam (seit einem Konzert in Hamburg 1967). Das Buch endet vor dem Beginn der Tournee 2003/2004, die wieder ein grandioser Erfolg für den mittlerweile 69jährigen wurde (siehe oben).
Den Erfolg, der ihm beruflich beschieden war, hat er in seinem Familienleben nicht. Das gibt er unumwunden zu und versucht sein Fremdgehen und seine One-night-stands dadurch zu erklären, daß er als Künstler eine gesteigerte Sinnlichkeit benötige. Wer sich nun einen Blick durchs Hotelzimmerschlüsselloch und schlüpfrige Geschichten erhofft hat, wird enttäuscht sein. – Überhaupt hebt sich das Buch wohltuend von anderen Autobiographien dadurch ab, daß der Verfasser sich selbstkritisch betrachtet. Zusätzlich gewinnt es dadurch, daß die Geschichte nicht chronologisch erzählt wird, wodurch die Lektüre vielleicht ermüdend geworden wäre – nein, die 29 Kapitel springen durch die Generationen vor und zurück, das Bindeglied ist der Mann mit dem Fagott, und durch diesen dramaturgischen Kunstgriff (für den er im Nachwort seinem Schwiegersohn dankt) bleibt die Lektüre bis zur letzten der 700 Seiten spannend. Das Buch enthält 16 Seiten Schwarzweiß-Photos, überwiegend aus dem Familienalbum. Es wird auch für Nicht-Udo-Jürgens-Fans als ein Stück europäischer Geschichte empfohlen!

Jutta Lambrecht
zuerst veröffentlicht in FM 25 (2004)

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