Bernie Krause: Das grosse Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur [Manfred Miersch]

Krause, Bernie: Das grosse Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur. Aus d. Engl. von Gabriele Gockel u. Sonja Schumacher – München: Kunstmann, 2013. – 272 S.: 16 s/w-Abb. (Originaltitel: The great animal orchestra)
ISBN 978-3-88897-870-8 : € 22,95 (geb.; auch als e-book erhältl.)

Der Titel des Buches könnte als verharmlosend bezeichnet werden, da sich dahinter viel mehr verbirgt als eine Sammlung von Argumenten, die die These vom Ursprung der Musik in der Natur unterstützen sollen. Die faszinierende Forschungsreise auf die der Autor seine Leser mitnimmt, führt zwar wie zu Alexander von Humboldts Zeiten in ferne fremde Länder, der Anlaß ist jedoch vertraut und naheliegend, er betrifft eine grundlegende Sinneswahrnehmung: „Viele von uns unterscheiden nicht zwischen dem Akt des Zuhörens und dem des Hörens. Es ist eine Sache, passiv zu hören, etwas ganz anderes ist es, mit ganzer Hingabe und aktiv zu lauschen.“ (S. 23).
Probieren Sie das mal, indem Sie das Lesen dieser Rezension für 30 Sekunden unterbrechen. [ --- ] Was haben Sie gehört? Vorwiegend von Ihnen selbst oder/und anderen Menschen erzeugte Geräusche, physiologische Geräusche wie Atmen, Husten oder Nebengeräusche wie das Rascheln von Kleidung, vielleicht auch elektromechanische Geräusche vom Lüfter Ihres PCs, von Autos, einem Kühlschrank, einem Rasenmäher, also von Dingen, für deren Existenz Menschen verantwortlich sind? Alles dies fällt in den Bereich der „Antropophonie“ (S. 164), während „die Laute lebender Organismen“ übergeordnet (da auch das Tierreich umfassend) und sich teilweise überschneidend (denn Sie als atmender und hustender Leser sind ja auch ein lebender Organismus, zumindest wenn Sie dieser Text noch nicht zu Tode gelangweilt hat) der „Biophonie“ angehören (S. 76). Wie nennt man es, wenn Donner zwischen Felswänden widerhallt oder Eisschollen krachend von Eisbergen abbrechen? „Geophonie“, richtig!
Donnern ließ es auch Bernie Krause zu einer Zeit als er noch als Bernard L. Krause auf Schallplattenhüllen verzeichnet war, erstmalig 1970 auf der LP In A Wild Sanctuary. Zusammen mit Paul Beaver bildete er das Duo Beaver & Krause, beide nahmen für die Platte auf Spaziergängen rund um San Francisco mit einem tragbaren Tonbandgerät Gewitter, Wassergeräusche, Vögel, Menschen, Tiere im Zoo und Maschinerie auf.
Zu diesem Zeitpunkt waren Beaver & Krause bereits überregional für ihre Arbeit mit ziemlich naturfernen Klängen bekannt. Paul Beaver erhielt Mitte 1967 das Angebot als Handelsvertreter an der amerikanischen Westküste für die Person tätig zu sein, deren Nachname bis heute als Synonym für synthetische, elektronische Musik gilt: Bob Moog, Erfinder des nach ihm benannten berühmten Moog-Synthesizers. Beaver & Krause arbeiteten ausgiebig mit Moogs modularem Klangerzeuger. Bernie Krause schreibt: „Uns beschäftigte vor allem eine Grundfrage: Was ist Musik?“ (S. 116). Er erläutert „Als ich die elektronische Musik aufgab, um Naturgeräusche aufzunehmen, verlagerte sich meine Aufmerksamkeit von den Elementen der Musik zur Frage nach ihrem Ursprung.“ (S. 118)
Als einer der wichtigsten Pioniere am Synthesizer nahm Krause Abstand von „… der künstlichen Erregung, die durch elektronische Musik erzeugt wird.“ (S. 141). Insider mögen dabei an den deutschen Synthesizerpionier Florian Fricke von Popol Vuh denken, der nach zwei legendären Schallplattenveröffentlichungen mit Moog-Synthesizermusik der Meinung war, die elektronischen Klänge schadeten dem Menschen, sie gingen aufs Herz. Als Leser des Buches kann man durchaus gegenteiliger Meinung sein, ohne den Spaß an der Lektüre zu verlieren.
Doch es sind nicht nur die Synthesizerklänge, die Bernie Krause im Buch kritisiert, kenntnis- und detailreich schildert er die negativen Auswirkungen von unterschiedlichem Lärm auf die Tierwelt und den Menschen und die Art und Weise wie Lärm benutzt wird, um uns alle in unserer Arbeitswelt oder Freizeit, z.B. im Restaurant oder im Kino, gezielt zu manipulieren.
Als Leser/in des Buches erfährt man interessante Dinge über Klang als Medium, über akustische Phänomene, über die „Bedeutung der Klanglandschaft als Zugang zu ökologischer und musikalischer Bildung“ (S. 42), über die Erweiterung des Musikbegriffes, über Musikethnologie, über „musikalische Unterdrückung“ in den zurückliegenden Jahrhunderten (S. 147), über die „Anfänge der musikalischen Geschichte des Menschen“ (S. 193), über den negativen Einfluss reaktionärer Politik auf die Erscheinungsweisen unser akustischen und visuellen Umwelt und darüber, wie die Biophonie das Sterben der Tierarten hörbar und anhand von Spektrogrammen sichtbar macht. „Als ich 1968 mit den Naturaufnahmen begann, waren noch 45 Prozent der Urwälder in den Kernstaaten der USA vorhanden. Im Jahr 2011 existierten keine zwei Prozent mehr davon.“ (S. 218)
Letztendlich zeigt sich Krause bei aller Kritik an bestehenden Verhältnissen als ein vorsichtig optimistisch gestimmter Humanist, der im neunten Kapitel zum Schluß des Buches folgerichtig die „Coda der Hoffnung“ anstimmt (S. 209).
Ein Buch nicht nur für Musiker/innen und Musikethnologen, auch für Tier- und Naturfreunde, für Reisende und Spaziergänger, für junge und alte Leute, für alle Menschen, die sich jenseits der heutigen von Konzernen und Behörden gesteuerten und kontrollierten virtuellen Welten noch einen uneingeschränkten Blick und ein offenes Gehör bewahrt haben.
Zu loben ist die Übersetzung aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Sonja Schumacher, durch fein formulierte Sätze und kluge Wortwahl wird das Lesen auch auf sprachlicher Ebene zum Vergnügen.
Das Vergnügen an dem Buch wird leider leicht getrübt durch etwas, das nicht der Autor, sondern der Verlag zu verantworten hat. Geworben wird auf dem eingeschweißten (!) Buch mit der Angabe es wären Hörproben enthalten. Das stimmt nicht, denn diese befinden sich auf einem Internetserver, auf den online zugegriffen werden muß. Dazu muß man eine Softwarekomponente auf dem eigenen Computer installiert haben, die in weiten Kreisen wegen ihrer Sicherheitslücken einen ziemlich schlechten Ruf hat (Flash Player).
Die Hörproben, auf die im Text jeweils gezielt verwiesen wird, sind eine wertvolle und bereichernde Ergänzung des Buches, diese hätte man besser als Audio-CD beifügen sollen. Dennoch: Das grosse Orchester der Tiere ist für den Rezensenten das Musikbuch des Jahres.

Manfred Miersch
Berlin, 22.08.2014

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