Der Gottesdienst und seine Musik. Liturgik [Ingeborg Allihn]

Der Gottesdienst und seine Musik.  Bd. 2 Liturgik: Gottesdienstformen und ihre Handlungsträger / Hrsg. von Albert Gerhards und Matthias Schneider. – Laaber: Laaber, 2014. – 323 S.: s/w Abb. (Enzyklopädie der Kirchenmusik ; 4.2)
ISBN 978-3-89007-784-0 : € 128,00 (geb.)

Die auf sechs Bände angelegte Enzyklopädie der Kirchenmusik, herausgegeben von Matthias Schneider, Wolfgang Bretschneider und Günther Massenkeil, schließt mit dem 2. Teilband Liturgik: Gottesdienstformen und ihre Handlungsträger das für den 4. Band vorgesehene Thema Der Gottesdienst und seine Musik ab. War in dem 1. Teilband Der Raum und die Instrumente. Theologische Ansätze. Hymnologie: Die Gesänge im Gottesdienst (s. Rez.  info-netz-musik) Grundsätzliches zum theologischen Ansatz der Kirchenmusik, zu ihrem Ort innerhalb der Liturgie und zu ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen gesagt worden, so vertiefen in dem jetzt vorliegenden zweiten Teilband eine (!) Autorin und 25 Autoren aus Österreich, der Schweiz und Deutschland in 29 Einzelbeiträgen diese Thematik. In der Einleitung betonen Albert Gerhards und Matthias Schneider, die beiden Herausgeber von Band 4, dass es ihr Ziel gewesen sei, „die lange Geschichte der gottesdienstlichen Musik in ihrem Kontext bis hin zur Gegenwart zu erfassen und darzustellen.“ Wobei der Schwerpunkt auf den „Bereich der deutschen bzw. deutschsprachigen Kirchen“ und auf die „Erscheinungsformen liturgischer Gesänge der beiden großen Konfessionen (sowie unterschiedlicher Traditionen)“ gelegt wurde (S. 9). Die Herausgeber waren bemüht, den aktuellen Kenntnisstand der Forschung zu dieser Thematik wiederzugeben, ein Ziel, das – bedingt durch den langwierigen Arbeitprozess an diesem Band und die Vielzahl der Autoren – nicht immer befriedigend erreicht wurde. Allerdings, und das betont Benedikt Kranemann im Ausblick seines Beitrags über Gemeindegesang in Taufe, Begräbnis und neueren Feierformen zu Recht: „Die Liturgie ist fortwährend Wandlungsprozessen unterworfen […]. Sie sind […] eine Konsequenz von Veränderungen in Kirche und Gesellschaft, nicht zuletzt einer Pluralisierung von Religion, die längst auch innerhalb der Kirche stattgefunden haben.“ (S. 204)
Eine solide Basis bietet Michael Meyer-Blanck mit seiner die Kette der nachfolgenden Beiträge einleitenden Betrachtung über Liturgische Ämter und Funktionen, sowohl aus evangelischer als auch aus katholischer Sicht. Was ist, was will, was bewirkt Liturgie? Fragen, die unter religiösen, ästhetischen, gesellschaftlich-sozialen, bildkünstlerischen u.a. Gesichtspunkten auch in den folgenden Beiträgen beantwortet werden: „Liturgie ist nicht nur Darstellung der Institution Kirche, sondern auch Selbstvollzug der Gesellschaft und symbolische Erneuerung ihrer grundlegenden Orientierungen.“ (S. 22). Reinhard Messner vollzieht in der Geschichte der römischen Messe diesen Veränderungsprozess von den Anfängen unter Papst Innozenz I. (402-417) bis zum Ordo missae von 1969. Ob es um die wechselnden Aufgaben der Orgel innerhalb der Liturgie im Laufe der Geschichte geht (Matthias Schneider), ob um die verschiedenen Gottesdienstformen: am kurfürstlichen Hof zu Dresden (Eberhard Schmidt), in Lübeck im 17. Jahrhundert (Jürgen Heering), in Leipzig zur Bachzeit (Martin Petzold) und im preußischen Berlin im 19. Jahrhundert (Ottfried Jordahn und Wolfgang Herbst), ob um den oberdeutschen und schweizerischen Predigtgottesdienst (Bruno Bürki), die Lutherische Messe (Jörg Neijenhuis) bzw. Luthers Deutsche Messe 1526 (Wolfgang Herbst), ob um Hildegard von Bingen (Albert Gerhards), Zwinglis Gottesdienstreform (Andreas Marti) oder die Tagzeitenliturgie (Harald Buchinger), fast immer wird historisches Werden im Hinblick auf aktuelles Sein betrachtet. Rätselhaft ist, warum in zwei kurzen Beiträgen dasselbe Thema, die Preußischen Agenden im 19. Jahrhundert, abgehandelt wird. Beide Autoren beziehen sich auf die Agenda von 1829, beide zitieren daraus denselben Satz. (S. 129 und S. 133)
Anregend diskutiert Ottfried Jordahn die Agende I der VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands) und EKU (Evangelische Kirche der Union), die beide – trotz charakteristischer Unterschiede – durchaus vergleichbar seien. Damit sei „die lutherische Kirche Deutschlands liturgisch kompatibel geworden im Kontext der Weltchristenheit und hat erstmals in ihrer Geschichte ein Missale im besten Sinne des Wortes gestaltet.“ (S. 141) Vorgestellt werden der Anglikanische Gottesdienst (Friedrich Lurz) und die katholisch-liturgische Reformbewegung im 18. und 19. Jahrhundert (Jakob Johannes Koch), die im Ergebnis u.a. nach 1903 eine Neugründung der Choralscholen zur Folge hatte. In wieweit diese auch Frauen offen stehen, kommt leider nicht zur Sprache. Michael Herbst erläutert sehr interessant andere Gottesdienstformen, die sich nach 1960 herausgebildet haben, und fragt nach deren Verhältnis zum „normalen“ Gottesdienst. Er benennt Streitpunkte und gibt einen Ausblick auf die nächste Generation, die andere Gottesdienste gestalten wird. Helmut Schwier diskutiert Entwicklungen und Tendenzen des Strukturpapiers zum Evangelischen Gottesdienst seit 1970. Ferner wird die Geschichte des Deutschen Evangelischen Kirchentags vom Beginn 1949 bis zum letzten Kirchentag 2013 in Hamburg einschließlich der Katholikentage (Albert Gerhards) und der Ökumenischen Kirchentage unter dem Gesichtspunkt ihrer liturgischen und kirchenmusikalischen Geschichte referiert (Harald Schroeter-Wittke). Nina Frenzel sieht in der Akzeptanz der Orgel ein Zeichen für Veränderungen im Gottesdienst der Synagoge, während eine kurze Betrachtung dem byzantinischen Christentum von um 1.000 n. Chr. bis heute (Franz Karl Praßl) gilt. Um ökumenische Tendenzen innerhalb der evangelischen und der katholischen Konfession geht es sowohl im Ökumenischen Taufgedächtnis (Martin Stuflesser), bei dem im April 2007 im Magdeburger Dom elf Kirchen und kirchliche Gemeinschaften gegenseitig die Taufe anerkannten, als auch im Beitrag zum neuen (2013) Gebet- und Gesangbuch ‚Gotteslob’ (Wolfgang Bretschneider), in das ostkirchliche, anglikanische, Taizé-, holländische, skandinavische usw. Traditionen Eingang fanden. Erfreulicherweise wird auch das nach wie vor schwierige Thema Neue Musik und Kirche (Joachim Herten/Joachim Röhring) erörtert und beklagt, dass bislang aus unterschiedlichen Gründen, ästhetischen Ausrichtungen u.a. ein Dialog zwischen beiden „Partnern“ ausgeblieben ist. Beide Autoren unterbreiten Werke zeitgenössischer Komponisten, die bei einer Aufführung in kirchlichem Rahmen durchaus Interesse finden würden bzw. bereits gefunden haben. Dass die „Inszenierung des Gottesdienstes […] zu einer zentralen Fragestellung der Praktischen Theologie“ geworden ist, „indem das Erleben und Gestalten der Liturgie mit Mitteln der Theaterästhetik neu belebt wird“, erläutert Joachim Conrad höchst anregend. Mit einer Situationsanalyse über die Kirchenmusik in einem säkularen Umfeld wird dieser zweite Teilband dann beschlossen. Hierbei kommt Harald Schroeter-Wittke zu dem Schluss, dass „regional übergreifende Konzepte entwickelt werden (müssen), die in einer Region eine möglichst große Vielfalt und qualitativ hochwertige Ausübunrg von Kirchenmusik pflegen.“ Denn „Musik ist nicht nur Schöpfungsgabe, sondern auch Geistesgabe.“ (S. 262)
Während sich die Mehrzahl der Autoren einer auch dem Laien verständlichen Sprache bedient, wird von einigen anderen über „historisierende Repristination“ (S. 135) oder über die „Arkandisziplin“ (S. 157) gesprochen. Begriffe, die selbst dem allwissenden Brockhaus bislang fremd geblieben sind. Offenkundig hatten die Autoren hier die Adressaten dieses Buches aus dem Auge verloren. In allen Beiträgen gibt es zahlreiche Anmerkungen und Literaturhinweise, lesefreundlich zugeordnet der jeweiligen Seite. Im Anhang sind ein Abkürzungs-, ein Literatur- und ein Abbildungsverzeichnis zu finden, ferner ein Personen- und ein Sachregister sowie kurze biografische Anmerkungen zu den 26 Autoren.

Ingeborg Allihn
Berlin, 10.07.2014

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