Sandra Hupfauf und Silvia Maria Erber: Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848 [Michaela Krucsay]

Hupfauf, Sandra und Silvia Maria Erber: Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848. - Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2013. -  382 S.: zahlr. s/w-Abb. (Schriften zur Musikalischen Ethnologie ; 2)
ISBN 978-3-7030-0804-7 : € 42,00 (Pb.)

Mit Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796-1848 präsentieren zwei Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Fachrichtung, die Musikwissenschaftlerin Sandra Hupfauf und die Historikerin Silvia Maria Erber, die Ergebnisse eines interdisziplinären, vom FWF geförderten Forschungsprojekts, das sich mit im politischen Kontext stehenden Tiroler Liedern (nicht zu verwechseln mit dem Genre des „Tiroler Lied“, das nur einen Teil des hier behandelten Stoffes bildet) aus der ersten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts beschäftigt hat. Gemeint sind Lieder, die im „deutlichen Kontext der politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Gegebenheiten“ (S. 7) dieser Zeit entstanden bzw. rezipiert worden sind. Die Grundlage für diese zweifellos verdienstvolle und in der vorliegenden Form erstmalige Aufarbeitung der Materie boten etwa 300 Lieder, auf die sich mehr oder weniger umfassende Hinweise in unterschiedlichen Quellen wie Tagebüchern, Reiseberichten, Flugblättern und natürlich Liedersammlungen fanden. (Vgl. ebd.) Auf dieser Basis verfassten die Autorinnen „Liedgeschichten“ – ein doppelsinniges Wortspiel, das durchaus als Programm verstanden werden darf und als solches in den Buchtitel Eingang gefunden hat. Gemeint sind sowohl jene Geschichten, die von den Liedern erzählt werden, als auch die Geschichte(n) der Lieder an sich: die ihnen jeweils eigene „Biografie“ bzw. „Liedmonografie“ (S. 7 bzw. 21).
Eine umfangreiche, in kleinere thematische Abschnitte gegliederte Einleitung erleichtert den Einstieg in die Materie und versorgt die Leserschaft mit Basisinformationen und dem nötigen Werkzeug, die einzelnen „Liedgeschichten“ der folgenden Kapitel in einen entsprechenden hermeneutischen Rahmen einzufügen. Diese an eine breite Bevölkerung in einer Phase der kulturellen Industrialisierung Tirols adressierten Lieder werden als Medium politischer Botschaften untersucht, das, wie die beiden Autorinnen hervorheben, im Kontext der Vereinnahmung des sogenannten „Volksliedes“ durch das Bürgertum in Abgrenzung zum Adel nicht nur sozial-kulturell, sondern auch zunehmend kommerziell an Bedeutung gewann. Das „Tiroler Lied“ als regelrechter Exportschlager stellt eine wahre rezeptionsgeschichtliche Fundgrube dar und bildet somit einen deutlichen Schwerpunkt innerhalb der vorliegenden Publikation. Gerade seine Verbreitung durch die sogenannten Tiroler Nationalsänger, zu deren prominentesten Exponenten die aus dem Zillertal stammende Familie Rainer zählte (S. 219), über Landes- und Kontinentalgrenzen hinaus, aber zum Teil auch über den von Hupfauf und Erber gesteckten zeitlichen Rahmen hinweg, ist sowohl von sozialhistorischem als auch musikwissenschaftlichem Interesse. Interdisziplinarität spielt auch hier wieder eine bedeutende Rolle, wie etwa, wenn man von der für Thomas Moores Byron-Biografie als „Zeitzeugin“ fungierende Mary Shelley erfährt, dass Lord Byron beim allabendlichen Übersetzen über den Genfer See während des nicht nur für die Literaturgeschichte legendär gewordenen Aufenthalts des illustren Schriftstellerkreises in der Schweiz im Sommer des Jahres 1816 den „Tyrolese Song of Liberty“ gesungen habe, dessen Text in Gestalt einer Kontrafaktur von Moore der Melodie des Tiroler Lieds Wann i in der Früh aufsteh angepasst worden war. (Vgl. S. 216ff)
In 17 einzelnen Kapiteln, die, in sich autonom, jeweils von einer der beiden Wissenschaftlerinnen verfasst worden sind, widmen sich die Autorinnen spezifischen Fragestellungen anhand ausgewählter Liedbeispiele. So wird ein großer Bogen gespannt von Rezeptionsgeschichte, Textanalyse, Vaterlandsbegriff, Gelegenheitsliedern und Kontrafakturen über Musik im unterschiedlichen historischen und politischen Kontext, als von „oben“ strategisch eingesetztes Auftragswerk zur Affirmation alter und neuer Herrschaftsverhältnisse, als scheinbar authentischer Schlachtgesang bis zu einem die Publikation abschließenden Kapitel über die Tiroler Landeshymne Zu Mantua in Banden, in deren Entstehung de facto kein Tiroler involviert war, wie Sandra Hupfauf detailliert darstellt. (Vgl. S. 325ff)
Dass die einzelnen Kapitel inhaltliche Schwerpunkte mitsamt entsprechender Hauptperspektive gemäß des Faches der jeweiligen Autorin aufweisen, versteht sich von selbst. Allerdings ergibt es sich durch diese Arbeitsteilung ebenso, dass die Interdisziplinarität gerade dadurch nun doch ein wenig leidet: So interessant und fachlich kompetent die jeweiligen Themen für sich besehen auch behandelt sein mögen, die komplementäre Perspektive der Mitautorin wäre sicherlich in mancher Hinsicht noch eine zusätzliche Bereicherung gewesen. Als etwas schade erscheint auch, dass die Unterkapitel nicht im Inhaltsverzeichnis aufscheinen.
Zahlreiche Abbildungen und abgedruckte Liedtexte – die allerdings nur teilweise ins Hochdeutsche übertragen worden sind, so dass sich eine des Tirolerischen nicht mächtige Leserschaft im Detail wohl leider nicht zurecht finden wird – bereichern die Publikation, die, optisch sehr ansprechend gestaltet, sicherlich einen Platz weit vorne im Bücherregal einnehmen darf. Dass ein Abbildungsverzeichnis fehlt, macht ein in sich gut strukturierter, nach Liedincipits geordneter Liedindex wieder wett. Auch ein umfangreiches Lieder- und Quellenverzeichnis sowie ein Verzeichnis der Tonträger ist vorhanden. Hohe wissenschaftliche Qualität ist gewährleistet: Sandra Hupfauf und Silvia Maria Erber orientieren sich, wie sie auch in ihrer Einleitung erklären (S. 21), methodisch am Historisch-kritischen Liederlexikon des DVA (Deutsches Volksliedarchiv).
Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848 richtet sich dabei insgesamt sicherlich eher an ein Fachpublikum. Doch auch interessierte Laien mit entsprechender Vorkenntnis, insbesondere solche, die sich von einem relativ hohen Anteil an in Tiroler Mundart verfassten Texten nicht abschrecken lassen, können durchaus ihre Freude an diesem sorgfältig gearbeiteten Buch haben, in dem sich so mancher Gedanke verbirgt, den weiterzuverfolgen über jede Landesgrenze hinweg sicherlich lohnend wäre.

Michaela Krucsay
Leoben, 19.06.2014

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