Victor Hollaender – Revue meines Lebens: Erinnerungen an einen Berliner Unterhaltungskomponisten um 1900 [Claudia Niebel]

Victor Hollaender – Revue meines Lebens: Erinnerungen an einen Berliner Unterhaltungskomponisten um 1900 / Hrsg. von Alan Lareau. – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2014. – 269 S.: zahlr., teilw. farb. Ill.; Audio-CD (Jüdische Memoiren ; 23)
ISBN 978-3-95565-041-4 : 29,90 € (geb.)

Das Lexikon der Juden in der Musik von Theo Stengel und Herbert Gerigk (1. Aufl. Berlin, Hahnefeld 1940), dieses unsägliche Braunbuch faschistischen Normierungswahns, listet in den Spalten 115 und 116 neben Victor weitere sechs Einträge unter dem Namen Hollaender/Holländer auf – Persönlichkeiten, die – Friedrich Hollaender einmal ausgenommen – heute weitgehend vergessen sind. Perfiderweise ist es den Nazis nicht nur gelungen, den Namen Victor Hollaenders aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, auch seine Rehabilitation stand bislang aus und seine Bedeutung für die Musikgeschichte im Bereich der Unterhaltungs- und Gebrauchsmusik der Jahrhundertwende ist abgesehen von diesem verdienstvollen Buch noch nicht ausreichend gewürdigt. Die 1938 von den Nazis in Düsseldorf initiierte Ausstellung „Entartete Kunst“ nahm Victor Hollaender jedenfalls so ernst, dass sie ihn auf den Index setzte und seinen schändlichen „jüdischen“ Einfluss auf die Entwicklung der Operettenmusik brandmarkte. Immerhin konnte er noch rechtzeitig mit seiner Familie emigrieren, wenn ihm auch wie vielen anderen Künstlern in seiner Lage der Zugriff auf sein Vermögen und seine Tantiemen in Deutschland verwehrt blieb. Als Vater des ungleich bekannteren Friedrich Hollaender stand er immer in dessen Schatten, doch ohne seinen Einfluss und die musikalische Vielseitigkeit seines Schaffens ist der Sohn kaum denkbar.
Die Hollaenders waren eine weit verzweigte Sippe, die hauptsächlich in Schlesien ansässig war und aus einfachen Verhältnissen den Aufstieg in die Künstlerelite des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Berlin geschafft hatte. Durch Mobilität (in geographischer als auch assimilatorischer Hinsicht), Fleiß und Begabung hat sie eine Reihe großartiger Musiker und Musikwissenschaftler hervorgebracht. Victors Vater war praktischer Arzt und Geburtshelfer, der mit seiner großen Familie – 13 Kinder waren es zuletzt – der besseren Ausbildungsmöglichkeiten und kulturellen Infrastruktur wegen nach Berlin umzog. Musik spielte immer eine große Rolle im Hause Hollaender, der älteste Sohn Gustav beispielsweise war Schüler von Joseph Joachim in Leipzig und übte in Berlin später u. a. das Amt des Direktors des Stern’schen Konservatoriums aus. Victor wurde 1866 geboren und zeigte ebenfalls früh musikalisches Talent. Ausgehend von Klavierspiel entdeckte er das Improvisieren und die Komposition und versuchte sich teilweise erfolgreich als Komponist von Gebrauchsmusik für Familienfeste, Schulfeiern und ähnliche halboffizielle Anlässe. Er ging vorzeitig vom Gymnasium ab, um als Student der damals neu gegründeten Neuen Akademie der Tonkunst Komposition, Klavier und Musiktheorie zu studieren. Erste Erfolge als Komponist kleinerer Singspiele, Couplets und Gelegenheitschansons, die Verleger fanden, überzeugten auch seine Familie von der Richtigkeit dieser Berufswahl. In seiner Doppelfunktion als Operettenkomponist und –dirigent erhielt er viel positives Feedback und Engagements außerhalb Berlins als Theaterkapellmeister folgten. Seine Stationen waren Hamburg, Budapest, Milwaukee, Chicago und London mit ihren Deutschen Theatern, wo es das Repertoire aufzuführen galt aber auch Auftragswerke für das überwiegend deutsche Publikum erwartet wurden. Liest man das (Auswahl-)Werkverzeichnis am Ende des Bandes ist man ob der Vielzahl und Vielfalt des Oeuvres erstaunt.
Der Herausgeber listet allein 27 Operetten auf, über vierzig Possen und Schwänke, mehr als zehn Revuen, dazu zwei Opern und eine unübersehbare Zahl an Klavierliedern, Chansons, Couplets, Chorwerken und Ensemblestücken. Das Walzerlied Die Kirschen in Nachbars Garten (in der Interpretation von Peter Alexander) oder die Revue Hurra – wir leben noch sind uns zumindest dem Titel nach sicher noch geläufig. Als in Berlin um die Jahrhundertwende das Metropol-Theater gegründet wurde, fand Victor Hollaender als Hauskomponist zu seiner wahren Berufung Seine Werke waren ungeheuer erfolgreich, sie wirkten stilbildend; ihre Beliebtheit verdanken sie nicht zuletzt auch ihrer textlichen Raffinesse, die das Berliner Publikum sehr zu schätzen wusste. Mit dem Ende des 1. Weltkrieges verlor Hollaender an Zuspruch, andere Formate waren gefragt, er komponierte fast nicht mehr und arbeitete nur noch als Dirigent. Seine Emigration 1933 über Frankreich nach USA ging mit den Autodafés der Nazis einher und leitete das Vergessen um sein Werk ein. In Hollywood konnte er musikalisch nicht mehr Fuß fassen, er starb 1940 völlig zurückgezogen und – außer von seiner Frau und seinem Sohn – von niemandem betrauert. Es gibt keinen Nachlass, das Wenige was erhalten ist, wird im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt.
Alan Lareau, Professor an einer amerikanischen Universität und ausgewiesener Kenner der Geschichte des Kabaretts, hat ein sehr sensibles Vorwort verfasst und die annotierte Autobiographie des Komponisten herausgegeben. Struktur, Kommentare und Anmerkungsapparat sind vorbildlich, das Layout ansprechend wie überhaupt das ganze Buch hervorragend konzipiert ist und die Verlagsreihe Jüdische Memoiren ideal ergänzt. Die auf der beiliegenden CD (Spieldauer ca. 14 Minuten) befindlichen vier digital aufbereiteten Aufnahmen aus dem Jahr 1932 vermitteln einen guten Eindruck vom Stil des Komponisten.

Claudia Niebel
Stuttgart, 22.05.2014

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