Gérard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft [Christoph Zimmermann]

Mortier, Gérard: Dramaturgie einer Leidenschaft – Für ein Theater als Religion des Menschlichen / Aus d. Franz. übers. von Sven Hartberger. – 2. erw. Aufl. – Kassel: Bärenreiter u. Stuttgart / Weimar: Metzler, 2014 – 126 S.
ISBN 978-3-7618-2060-5 u. 978-3-476-02546-3 : € 24,95 (geb.)

„Er war mit der Oper verheiratet, atmete, dachte, lebte sie.“ So zu lesen in einem Nachruf auf Gérard Mortier, der am 9. März 2014 mit nur siebzig Jahren starb. Als die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekannt wurde, entließ ihn das Teatro Real in Madrid, dessen Leitung er (nach vielen anderen prominenten Stationen) zuletzt inne hatte. Dieser “perfide“ (FAZ) Hinauswurf ist nicht ganz untypisch für Mortiers Künstlerleben. Denn bei der Oper ging es ihm radikal um das Theater als moralische Anstalt mit aller Kraft des Visionären. So zu lesen in der Einleitung seines Buches Dramaturgie einer Leidenschaft, welches – leicht überarbeitet – nun auch in deutscher Sprache erschienen ist.
Mortier verstand den Beruf des Opernintendanten nicht nur als künstlerische, sondern auch als politische Aufgabe, sah in ihm fast ein „priesterliches Amt“. Bei seiner Spielplangestaltung wollte nicht zuletzt den Beweis führen, dass Musiktheater über eine Welt reflektiert, die “besser sein kann, als sie ist“, dass sie sogar „ein Streiflicht auf das Jenseits“ zu werfen vermag. Diesen Ausspruch fällt Mortier mit besonderem Blick auf Claudio Monteverdis dramatische Szene Il Combattimento di Tancredi e Clorinda. Monteverdi war für ihn überhaupt der erste wirklich dramaturgisch denkende Mann der Operngeschichte. Nicht alles, was das heutige Repertoire ausmacht, vermag diesem Anspruch zu genügen. Wenn Mortier gesteht (nicht im vorliegenden Buch freilich), dass er Puccini hasse, dürften traditionelle “Opernfreunde“ (dieser Begriff wird bei Mortier immer in Anführungsstriche gesetzt) erst einmal schlucken. Aber sie sind für ihn ohnehin oft genug „Faulpelze, die sich weigern, Gewohnheiten infrage zu stellen“.
Mortier betrachtet es als unumgängliche Pflicht, mit der Zeit zu gehen. Bei der Oper sollte seiner Meinung nach dem Schaffen des 20./21. Jahrhunderts ein wesentlich grösserer Raum eingeräumt werden, als wie es gegenwärtig der Fall ist. Sein diesbezüglich letztes Projekt war in Madrid die Bühnenversion von Brokeback Mountain (Charles Wuorinen). Mortier ließ das Werk abwechselnd mit Wagners Tristan spielen – unmögliche Liebe hier wie da. Weiterhin plädiert Mortier für eine wirklich sinnprägende Auslegung des Werktreue-Begriffs. „Die wahre Tradition ist das Feststellende, nicht das Feststehende, … und das Erfinden neuer Regeln, die geeignet sind, die Zukunft produktiv zu gestalten.“ Hierzu gehört auch das Nutzen unorthodoxer Spielräume, wie bei der Ruhr-Triennale 2002-2004 besonders glückhaft verwirklicht.
Das Buch gibt nicht immer ganz verlässlich Auskunft darüber, ob Mortiers hochzielende Erwartungen beim Publikum zur Gänze auf Gegenliebe stießen, ungeachtet der Erwähnung punktueller Erfolge bei Zuschauern der jüngeren Generation. Doch eines wird klar: ganz ohne Visionen geht es nicht. Gérard Mortier hat Ansprüche festgelegt, an denen man sich vielleicht reiben kann, deren leuchtendes Ziel Nachfolgegenerationen aber moralisch in die Pflicht nehmen.
Das Buch enthält eine Chronologie der Opernproduktionen 1981-2014 und ein Personenregister.

Christoph Zimmermann
Köln, 05.04.2014

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