Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute / Hrsg. von Gerhard Paul und Ralph Schock – Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 2013. – 630 S., zahlr. Farb- und S/W-Abb; DVD
ISBN 978-8389-7096-7 : € 7,00 (Pb.)
„Wer Ohren hat, zu hören, der höre!“ Was mag Martin Luther vernommen haben, als er im frühen 16. Jahrhundert diese Worte ins Deutsche übersetzte? Das Knistern verbrennenden Holzes im Kamin, Glockengeläute als Zeichen kirchlicher Machtfülle, knirschende Wagenräder auf festgetretener Erde, die Rufe der Marktschreier … Und was hören wir heute? Das Aufheulen von Motoren, elektronische Warnsignale, Fahrstuhlmusik und Polizeisirenen. Jede Zeit hat ihren Sound. Jede Epoche hat ihre musikalischen Ausdruckmöglichkeiten, Alltagsgeräusche, Signale zur Hierarchisierung der Gesellschaft.
Diese „akustische Umwelt“ (oder Soundscape nach R. Murray Schafer) der vergangenen 125 Jahre ist es, die die Bonner Bundeszentrale für politische Bildung in der vorliegenden, schlichtweg überwältigenden Publikation näher betrachtet hat. Betreut wurde das Projekt von Gerhard Paul, Professor für Geschichte an der Universität Flensburg, und Ralph Schock, Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. Den Herausgebern ist es gelungen, über 100 Texte von 80 namhaften Wissenschaftlern, Autoren, Künstlern und Journalisten zu einer Klanggeschichte unserer Zeit zusammenzustellen. Die einzelnen Aufsätze, denen umfangreiches Bildmaterial beigefügt ist, werden jeweils durch einen bibliografischen Anhang und einen Verweis auf Hörbeispiele abgeschlossen. Doch selbst an diesem Punkt lässt die bpb den Leser nicht alleine. Auf der beigefügten DVD ist die komplette Publikation als PDF mit eben diesen akustischen Quellen enthalten. Eine noch umfassendere Aufarbeitung des Themas ist fast nicht denkbar.
Struktur erhält die Klanggeschichte zum einen durch die Gliederung in sechs zeitbezogene Kapitel. Den inhaltlichen Zusammenhang schafft darüber hinaus das verlegerische Konzept durch die Festlegung von drei Themenfelder: Eine Geschichte akustischer Technologien (Grammophon, Radio, Ohropax etc.), das Klangspektrum des Politischen (Luftschutzsirenen, Schweigeminuten, Wochenschau etc.) sowie der Sound als Erinnerungsgeschichte (Sportreportage, O-Töne, patriotisches Liedgut). Die Themenfülle auch nur annäherungsweise beschreiben zu wollen, wäre vermessen. An dieser Stelle sei der Link zum Inhaltsverzeichnis erlaubt. Diese Vielfalt ist Segen und Fluch zugleich. Segen, weil in geradezu lexikalischer Breite das Soundspektrum abgehandelt wird; Fluch, weil dadurch zwangsläufig die inhaltliche Tiefe bestimmt wird. Nicht alle Texte bieten denselben Erkenntnisgewinn, nicht alle Autoren finden den richtigen Zugang zu ihrem Thema, mancher Leser mag akustische Denkmäler vermissen oder vorhandene für überflüssig erachten. Doch in seiner Gesamtheit bietet die Publikation ein Ausmaß an Denkanstößen, Blickwinkeln, Hörbeispielen, politischen, gesellschaftlichen, technologischen und kulturellen Zusammenhängen, das in dieser Form (und zu diesem unschlagbar günstigen Preis) seinesgleichen sucht – und höchstwahrscheinlich nicht finden wird!
Michael Stapper
München, 21.03.2014