Esther Slevogt: Magnus Davidson. „Wir beten Geschichte“. Ein großer Berliner Kantor des 20. Jahrhunderts [Peter Sühring]

Slevogt, Esther: Magnus Davidson. „Wir beten Geschichte“. Ein großer Berliner Kantor des 20. Jahrhunderts. – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2013. – 72 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 145)
ISBN 978-3-95565-032-2 : € 8,90 (kt.)

Der ab 1912 in der neuen Synagoge des Berliner Westens in der Fasanenstraße, nahe des Kurfürstendamms, neben dem Rabbiner Leo Baeck als Kantor wirkende Magnus Davidsohn (1877‑1958) gehörte einer ganz bestimmten Richtung liberaler Synagogenmusiker an. Er verkörperte eine neusachliche Strömung, der die Reform-Kantoren des 19. Jahrhunderts zu romantisch veranlagt waren. Er war stark historisch geschult, aufgeklärt und auch über die weltliche Musikentwicklung unterrichtet. Esther Slevogt hat aus relativ wenigen öffentlichen Quellen in Berlin und London, v.a. aber aus privaten Dokumenten des amerikanischen Urenkels von Davidsohn das Leben und Wirken dieses bedeutenden jüdischen Kantors rekonstruieren können. Sein Schicksal ist unlösbar mir der nationalsozialistischen Zerstörung jüdischen Lebens in Deutschland verknüpft, sein Überleben und sein erneutes, wenigstens publizistisches Wirken in Deutschland nach 1945 ein Glücksfall.
Früh nahm er sich an seinem Vater, der Kantor in der oberschlesischen Stadt Beuthen war, ein Vorbild und wurde vom Milieu dieser Lebensweise so tief geprägt, dass er sein Studium der Musikgeschichte an der Berliner Universität, seine Ausbildung zum profanen Sänger an der Berliner Musikhochschule, sein Engagement am deutschen Opernhaus in Prag unter Angelo Neumann (samt einer auch für jenen anderen nicht ganz unbedeutenden Begegnung mit Gustav Mahler) nur als Umwege betrachten konnte, die ihn zu seiner eigentlichen Bestimmung, zu einem geistlichen Musiker der Synagoge zurückführen mussten. Als erfolgreicher Kantor in Gleiwitz, der sich überregional Meriten erworben hatte, wurde er 1912 an die neue Berliner Synagoge in der Fasanenstraße berufen, deren prächtige Ausstattung Ausdruck des gesteigerten Selbstbewusstseins des emanzipierten Judentums war. Dessen Kennzeichen war die Mitgliedschaft im Zentralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im Kaiserreich. Wie trügerisch und über die Lage täuschend dieses neue Selbstbewusstsein angesichts des aufkommenden Antisemitismus als einer von Wilhelm Marr angefachten rassischen Volksbewegung der deutsch-christlichen Mehrheitsgesellschaft war, sollte sich bald nach dem Ersten Weltkrieg, in dem viele Juden als deutsche Patrioten ihr Leben ließen, herausstellen. 26 Jahre konnte Davidsohn dort seine fruchtbare Tätigkeit entfalten, die Synagogalmusik exemplarisch erneuern, wissend, dass nicht er von der christlichen Musik übernimmt (wie der Vorwurf orthodoxer Kantoren lautete), sondern diese ursprünglich (v.a. seit den Regeln, die Papst Gregor I. im 6. Jahrhundert erlassen hatte) eine Modifikation des althebräischen Levitengesangs gewesen war. Der bis 1933 in Berlin lebende und lehrende, mit Davidsohn befreundete jüdische Musikwissenschaftler und Komponist Hugo Leichtentritt konnte dies endgültig nachweisen. Davidsohn hatte nicht nur die seltene Exemplare enthaltende Sammlung liturgischer Musik seines Vaters geerbt, sondern diese Sammlung um weitere Stücke aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit erweitern können. Sie wurde teils Opfer der Flammen der Progromnacht des 9. Novembers 1938, teils musste er sie wegen der dringend gebotenen Emigration im Stich lassen. Sie muss als verloren gelten. Als Davidsohn am Morgen des 10. November aus Gestapo-Gewahrsam entlassen wurde, konnte er nur noch vor den niedergebrannten Trümmern seiner Synagoge, deren Zerstörung Goebbels persönlich angeordnet hatte, das Kaddisch-Gebet sprechen.
Er ging nach London ins Exil und hat dort aus dem Nichts mit anderen Glaubensbrüdern eine neue Gemeinde gründen und schließlich sogar ein eigene liberale Synagoge aufbauen können, deren Kantor er wurde. Nach seinem Abschied aus dem Kantorenberuf in London kehrte er sogar 1956 nach Deutschland zurück, lebte möbliert in Düsseldorf und setzte seine Artikel in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung, in denen er neuerlich Sinn und Bedeutung der jüdischen Festliturgie für die neue Generation erläuterte, bis zu seinem Tod fort. Slevogt hat vier dieser Artikel in einem Anhang des Buches nachdrucken lassen und mit Anmerkungen versehen; sie geben einen lebendigen Eindruck von seinem tiefen Wissen und von dessen sachlicher aber nicht leidenschaftsloser Weitergabe, die die Hoffnung auf eine Erneuerung jüdischen Lebens nicht aufgibt. Wenn man heute am Jüdischen Gemeindezentrum in der Berliner Fasanenstraße vorbeigeht oder auch nur über das Eisenbahn-Viadukt fährt und auf das Gebäude schaut und das in die Vorderfront integrierte ehemalige Portal der Synagoge sieht, weiß man nun, dass die Sichtbarkeit dieses kleinen Erinnerungsstücks an eine nur kurz währende große Zeit dieser Synagoge und ihrer Musik auf einen dringenden Vorschlag ihres Kantors Magnus Davidsohn zurückgeht.

Peter Sühring
Berlin, 10.02.2014

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