Tim Renner u. Sarah Wächter: Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten [Michaela Krucsay]

Renner, Tim und Sarah Wächter: Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten. Die Wahrheit über die Popindustrie. – Berlin: Berlin, 2013. – 336 S.: 40 s/w-Abb.
ISBN 978-3-8270-1161-9 : € 16,99 (Pb.)

Zwei Insider der deutschen Popindustrie teilen ihre Erfahrungen mit einer interessierten Öffentlichkeit: Tim Renner, erfolgreicher Musikproduzent (er baute unter anderem Tocotronic, Sportfreunde Stiller und Rammstein auf) und seit 2009 Professor an der Popakademie Baden-Württemberg und Sarah Wächter, die als DJane ihren Weg in die Musikbranche fand, ehe sie 2008 zum Label Motor Music stieß, wo sie unter anderem textete und auch zur Assistentin Renners wurde. Seit 2012 ist Wächter mit ihrer eigenen Radio-Promotion Agentur „s’läuft!“ selbstständig.
Der Titel der Publikation trägt die Handschrift Tim Renners, der bereits mit zwei anderen Büchern an die Öffentlichkeit getreten ist: Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten ist eine Textzeile aus dem Refrain des Songs Trrrmmmer der Hamburger Band „Die Sterne“ aus dem Jahr 1996, als die Musikindustrie gerade ein goldenes Zeitalter erlebte. Die beiden Autoren liefern in ihrem Vorwort den Schlüssel zum Verständnis ihrer Mottowahl, indem sie auf die aktuelle Krise der Popbranche verweisen: „Das Geld ist alle, der Champagner leer, und dennoch leben wir nach wie vor für die Musik. Es scheint, als hätten wir den Absprung in die Realität verpasst – und nun sitzen wir in den Ruinen und räumen auf.“ (S. 10) Dennoch, das zentrale Thema von Renners und Wächters Gemeinschaftsprojekt ist nicht Krise und Umstrukturierung eines der wichtigsten und gesellschaftlich einflussreichsten Geschäftszweige des 20. Jahrhunderts, obwohl auch dieser Themenkomplex seinen berechtigten Platz innerhalb der Publikation einnimmt. Vielmehr geht es Renner und seiner Co-Autorin darum, der popmusikalisch interessierten Leserschaft einen autorisiert kompetenten Einblick hinter die Kulissen einer sehr wirtschaftlich orientierten Industrie – im wörtlichen Sinne – zu ermöglichen, der durchaus nicht vor Kritik zurückscheut, dabei aber stets einen tief empfundenen Idealismus und echte Begeisterung für Musik und ihr positives Potential durchblitzen lässt, die jede potentielle Desillusionierung durch neu erfahrene Sachverhalte und Zusammenhänge wieder relativiert.
In den sechs größeren Abschnitten (Die Eigenschaften, Die Notwendigkeiten, Die Profis, Die Systeme, Die Kanäle und Die Zukunft), die jeweils wiederum in thematisch konkreter benannte Kapitel unterteilt sind, wird Die Wahrheit über die Popindustrie im locker leichten Plauderton enthüllt. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler von AC/DC über Marusha bis Zappa erfahren dabei je nach kontextuell begründbarem Beispielpotential Nennungen von unterschiedlicher Ausführlichkeit. Die Gliederung ist logisch stringent und führt von quasi-individuellen Aspekten der KünstlerInnen wie Charisma und Wiedererkennungswert über allgemein strategische Prinzipien von Marketing und Management zu den Labels und den Möglichkeiten der Distribution, um schließlich, ausgehend von den neuen Rahmenbedingungen für die Musikindustrie, mögliche Wege in die Zukunft (wenn auch nur grob) zu umreißen.
Renners große Stärke als Autor, das wurde bereits andernorts festgestellt, ist die Vermittlung fundierten Wissens im anekdotisch flüssigen Erzählstil. Naturgemäß liegt sein Hauptaugenmerk dabei primär auf den eigenen Erfahrungen, die sich auf den deutschen Musikmarkt konzentrieren. Trotzdem fehlen die Verbindungen zu internationalen Phänomen und Entwicklungen nicht, wo sie sinnvoll für das Gesamtkonzept des Buches gezogen werden können. Selbes gilt für die historische Entwicklung der Musikindustrie: wer sich eine systematisch gegliederte Geschichte der Popmusik, ihrer Rezeption und technischen Voraussetzungen erwartete, würde hier nicht fündig werden. Sehr wohl aber bieten Renner und Wächter auch hierzu wohlaufbereite Informationen in bekömmlichen Häppchen an, um die Hintergründe aktueller Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Klassische Beispiele wie Elvis Presley, dessen Entdeckung und Vermarktung Renner und Wächter in zwei knapp destillierten Exkursen zu neueren Phänomenen wie Techno parallel setzen: „Die Avantgarde arbeitet sich daran ab, das Neue zu etablieren, aber dann treten ein paar Macher aus den alten Strukturen des Mainstreams auf den Plan, werfen einige Regeln über den Haufen, bedienen bewährte Klischees und räumen ab.“ (S. 21)
Sehr sympathisch: Obwohl der Einfluss der Bedingungen des Freien Marktes auf Produktion und Rezeption, auf Erfolg und Misserfolg von EinzelkünstlerInnen und Bands nicht geleugnet wird, entsteht dadurch keineswegs automatisch ein pessimistisch gefärbter Tunnelblick. Gerade, was die Möglichkeiten der Neuen Medien betrifft, sehen Renner und Wächter ein Potential der Re-Individualisierung der Popmusik, Nischen für Experimente und kreative Persönlichkeiten abseits des auf Massengeschmack nivellierten Mainstreams. Nicht umsonst beenden Renner und Wächter ihr Buch mit einem Zitat von dem Ex-Politiker und Kulturmanager Peter Schwenkow, der an der Hochschule für Musik und Theater eine Professur für Veranstaltungswesen und multimediale Vermarktung innehat: „Denn wenn du Talent hast, findest du im Internet immer dein Forum. Schallplattenfirmen braucht man dazu nicht mehr.“ (zit. n. S. 329)
Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten. Die Wahrheit über die Popindustrie ist keine wissenschaftliche Analyse von Geschichte und Gegenwart des Musikmarktes, sondern eine gut aufbereitete und unterhaltsame Sammlung von Anekdoten und Insidererfahrungen. Es ist, als würde man mit den beiden Autoren in gemütlich abendlicher Runde beisammensitzen und ihren Erzählungen lauschen. Einiges mag dabei schon bekannt sein, manches mag scheinbar auf der Hand liegen – aber lesenswert und informativ ist das Buch allemal. Eine Bibliographie gibt es leider nicht; einzelne Zitatbelege finden sich ausschließlich als Fußnoten im Lauftext. Ein umfangreiches Namens- und Bandregister ist jedoch vorhanden.

Michaela Krucsay
Leoben, 20.12.2013

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