Gesa Finke: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten [Peter Sühring]

Finke, Gesa: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten – Köln: Böhlau, 2013. – 354 S.: Abb. (BIOGRAPHIK. Geschichte – Kritik – Praxis; 2)
ISBN 978-3-412-21082-3 : € 39,90 (kt.)

Nachdem man sich durch die Einleitung und das erste Kapitel („Musikkulturelle Erinnerung um 1800“) gekämpft hat, beginnt ein schönes, materialreiches, an Forschungserfahrungen und ‑ergebnissen sattes Buch, das wirkliche Enthüllungen enthält und die Basis für eine neue, durchaus verbesserte und positivere Sicht auf Constanze Mozart-Nissens Rolle nach dem Tod ihres komponierenden und musizierenden ersten Mannes abgeben kann, vielmehr sollte. Leider halten es junge Nachwuchswissenschaftler(innen) für nötig (oder werden genötigt?), ihre Arbeiten in einer der bestehenden modischen Forschungsrichtungen und -schulen zu verorten und deren Wissenschaftsjargon zu übernehmen. Was jahrelang die Performativität von allem und jedem war, sind in diesem Fall, um es terminologisch korrekt auszudrücken: erinnerungskulturelle und genderspezifische Diskurse. Zum Vorteil der Autorin sei bemerkt, dass sie diese überflüssige Prozedur angesichts der Substanz dessen, was sie zu sagen hat, gar nicht nötig hätte und dass sie es sprachlich in einer moderaten Art tut. Aber wir haben es hier mit einer akademischen Lizenzarbeit zu tun, und da scheinen die andere junge Wissenschaftlerinnen promovierenden neuen Heroinen der deutschen Musikwissenschaft genauso auf der Einhaltung bestimmter Zunftzwänge zu bestehen wie es die altvorderen männlichen Autoritäten taten. Welche Folgen es hat, wenn der erinnerungskulturelle und Gender-Diskurs sich in der Musikwissenschaft ausbreitet und ausdifferenziert resp. durchdekliniert wird, kann man an dieser Dissertation studieren.
Constanze Mozart-Nissen in ihrem Bemühen, die Werke ihres Mannes zu sammeln und der Nachwelt zu überliefern, wird hier zur Protagonistin eines justamente um 1800 einsetzenden Prozesses der Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses und einer Kanonisierung von Komponisten, der aber in seinen bis heute gültigen Resultaten affirmiert wird, so als sei mit dem Kanon im allgemeinen und mit der von der Mozart-Witwe gestifteten Mozart-Verwaltung, z. B. durch das Salzburger Mozarteum alles in Ordnung oder als stünde alles wirklich in einer von ihr her datierbaren Tradition. Die Frage, ob Witwen generell und ob speziell jene Mozarts eine bestens geeignete Nachlassverwaltung abgeben können oder ob bei verstorbenen Künstlern privat nahestehenden Personen weiblichen Geschlechts, gerade wegen ihres Anspruchs, authentisch zu sein, nicht eher subjektive Trübungen die Oberhand gewinnen, wird hier nicht aufgeworfen. Stattdessen wird suggeriert, ohne Constanze Mozart und ohne ihren zweiten Ehemann Nissen hätte der Prozess einer Erinnerung an Wolfgang Amadé Mozart und eine Überführung dieser bewahrenden Erinnerung in ein festes, gesellschaftlich sanktioniertes Gedenkritual gar nicht stattgefunden, unabhängig davon, ob es in seiner damals beabsichtigten und seiner heutigen Form überhaupt wünschenswert und Mozart adäquat ist. Diese Suggestion grenzt an eine musikgeschichtliche Witwen-Hagiographie, die demnächst, so steht zu befürchten, sicher auf andere Damen dieses Genres ausgedehnt werden wird. Glänzende Perspektiven nicht nur für Cosima Wagner als Stifterin des Wagner-Kults. Es soll aber auch Komponisten gegeben haben, die es ohne Witwen geschafft haben, in Erinnerung zu bleiben. Cécile Mendelssohns Rolle allerdings ist extrem unterbelichtet, die von Clara Schumann vermutlich nicht ganz so positiv zu bewerten wegen der ihr anzulastenden Verkürzung des Werkkatalogs ihres Mannes. Und wie wär‘s mit Wilhelm Hensel als Komponistin-Witwer, der den späten Nachruhm seiner Gattin letztlich nicht verhindern konnte?
Nicht zuletzt wegen ihres fragwürdigen geisteswissenschaftlichen Einordnungswillens in aktuelle Hauptströmungen unterlaufen der Autorin dann auch manchmal Fehlschlüsse in kategorialer und faktischer Hinsicht. Während Finke die Witwenrolle Constanze Mozarts noch als kulturelles Phänomen bereits in der frühen Neuzeit verorten kann, übernimmt sie bezogen auf „absolute“ oder „autonome“ Musik, solche also, der kein Programm, keine Charakteristik unterlegt oder eingeimpft ist, das von Dahlhaus in die Welt gesetzte Missverständnis, diese Musik würde stattdessen Metaphysik, Transzendenz und „Bildungsfunktion“ transportieren, wie es bei Tieck und Wackenroder allenfalls anklingt, und verbindet dies ganz traditionell mit der aufkommenden bürgerlich-idealistischen Musikkultur. Nun war das reine Tonstück ohne Worte und Programm, die „Sonate“, schon lange vor 1800 im Rahmen der höfischen Musikkultur entstanden, und schon oder noch Bernard de Fontenelle fragte: „Sonate, was soll mir das?“, wie es von Rousseau in seinem Musiklexikon 1767 überliefert wurde. Statt die Formierung des bürgerlichen Konzertbetriebs in naheliegender Weise anhand von Mozarts Bemühungen um ein eigenes Publikum für seine Wiener Akademien in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zu beschreiben, weicht Finke seltsam auf andere Städte in späteren Jahrzehnten aus, wahrscheinlich, um die gesamteuropäische Tätigkeit der Witwe Mozart in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu in ein näheres Verhältnis setzen zu können. Auch Autor und Werk gab es praktisch schon lange vor der genieästhetischen Theorie von Autor und Werk, sogar schon vor dem selbst wiederum sehr viel früheren und von Anfang an für diese Frage bedeutenden Notendruck. Nicht von ungefähr ließ Monteverdi seinen L’Orfeo 1609 drucken, auch um die von ihm erdachten Verzierungen bestimmter Arien zu überliefern, und nicht von ungefähr ließ schon Vater Leopold Mozart die Klavier-Violin-Sonaten des achtjährigen Sohnes 1764 in Paris stechen. Diese Frage stets mit einem ausgereiften bürgerlichen Subjekt à la Beethoven zu verbinden, scheint den weit bis in die höfische und kirchliche Musikkultur zurück reichenden Kampf von komponierenden Musikern um ihre Anerkennung und postmortale Tradierung historisch zu verkürzen. Gerade Constanze Mozart-Nissen war allerdings, was Finke nun erstmals belegen kann, von der Autorschaft Mozarts und dem künstlerischen Werkcharakter seiner Hinterlassenschaft überzeugt. Und dass Mozarts selbst schon dieses Selbstbewusstsein hatte, was seiner Frau nicht entgangen sein dürfte, geht auch daraus hervor, dass er sich Mainwarings Händel-Biografie von 1761 zum Vorbild nahm und an seinen Gönner Puchberg verschenkte ‑ eine kleine, aber sehr markante, von Finke nicht erwähnte Tatsache.
Aber jenseits von Anpassungstendenzen an virulente Standards, die produktive Teilhabe an momentan als exzellent geltender Wissenschaftlichkeit ausweisen sollen, hat Finke viel Material zusammengetragen und in diesem Buch klug und pointiert ausgebreitet, das ein detailliertes Bild von Constanze Mozart-Nissens 50-jährigen Bemühungen um ein Wachhalten der Musik ihres ersten Mannes gibt, der sterben musste, als sie gerade einmal 29 Jahre alt war. Wie seine Schwester Maria Anna als Pianistin hat Mozart seine Frau Constanze als Sängerin ernst genommen und beide haben ihm diese künstlerische Anerkennung nicht vergessen und durch Treue und Werbung für ihn und sein Werk vergütet. Ob die Nachwelt heute weniger über ihn (auch weniger falsch Montiertes, wie Finke zeigen kann) wüsste, ob nicht einer der Söhne oder jemand außerhalb der Familie (vielleicht sogar besser) an die Stelle von Schwester und Ehefrau hätte treten können, bleibe dahingestellt. Eine im Salzburger Mozarteum wohnende Mozart-Familiendynastie ist uns jedenfalls erspart geblieben.
Der Anteil bisher unveröffentlichter Quellen, die Finke studiert hat, ist beachtlich. Wer also Genaueres, auf neu eingesehene und interpretierte Quellen Gestütztes wissen will über Constanze Mozarts Konzerte bis 1799 (in denen Mozarts Titus-Oper stets eine hervorragende Rolle spielte), über ihre Verhandlungen mit den Verlegern Breitkopf & Härtel sowie Anton André über Mozarts Autographe und über die Konzeption einer ersten Gesamtausgabe seiner Werke, über ihre Mitwirkung an Georg Nikolaus Nissens Mozart-Biografie, die Rolle eines gewissen Johann Heinrich Feuersteins dabei und deren Verhältnis zu den Biografien von Schlichtegroll und Niemetschek, über ihre Mitwirkung am Salzburger Mozart-Denkmal und an der Gründung des Mozarteums, der ist hier gut bedient und kann sich auf den neuesten Stand selbständiger Forschung bringen.

Peter Sühring
Berlin, 12.11.2013

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