Wolff, Christoph: „Vor der Pforte meines Glückes“. Mozart im Dienste des Kaisers (1788-1791). Aus dem Amerik. von Matthias Müller. – Kassel u. Stuttgart: Bärenreiter u. Metzler, 2013. – 227 S.: Notenbsp., Abb.
ISBN 978-3-7618-2277-7 : € 29,95 (geb.)
Wenn einer der international renommierten Mozart-Forscher es unternimmt, eine neue, alte Fehlsichten korrigierende Ansicht der vier letzten Wiener Lebens- und Schaffensjahre Mozarts zu unternehmen, kann ihm Aufmerksamkeit gewiss sein, und das Aufhorchen hat sich auch gelohnt. In einer biographisch und werkgeschichtlichen Gesamtschau versucht Wolff ein ausgewogenes Bild der kompositorischen Höhen und der lebensweltlichen Tiefen der Jahre 1788 bis 1791 zu geben. Sie mündet allerdings in eine fixe Idee (wenn sie nicht schon davon ausgegangen war), so dass etliche Tatsachen und Umstände nach deren bestmöglicher Bewahrheitung gemodelt werden müssen. Die Stoßrichtung von Wolffs Darstellung und Interpretation der Fakten aus Leben und Werk ist klar umrissen und gibt zu Beginn der Lektüre zu großen Hoffnungen Anlass: die einseitige Sicht auf die letzten Jahre Mozarts als einer Periode des Niedergangs, des Abschieds, der Todesahnungen zu destruieren mit dem Nachweis einer (angeblich bisher ungeahnten) Weite und Vielfalt der Kompositionsweise Mozarts, seiner Besserstellung am kaiserlichen Hofe zu Wien, der Wiederaufnahme seiner Reisetätigkeit, des Anschlusses an als gewaltig empfundene Traditionen bis hin zur Entwicklung eines eigenen „imperialen“ Stils. Man ahnt langsam, dass hier doch der Spieß nur einfach umgedreht werden soll und mit streitbaren Thesen die Diskussion um Mozarts letzte Jahre neu angefacht werden soll mit dem Resultat der endgültigen Verortung des späten Mozarts in einem fiktionalen Walhalla der Besten und Größten einer ebenso fiktionalen Musikgeschichte, die auch wie die politische Geschichte, nach einer Bemerkung Voltaires, nicht anderes ist als die Lüge, auf die alle sich geeinigt haben. So weit so gut, blieben bei diesem Unternehmern nicht unvermeidlich etliche zu Mozarts Leben und Schaffen, auch seiner Wiener Jahre gehörende Aspekte unterbelichtet auf der Strecke und würden die ins Konzept passenden Umstände nicht überbewertet.
Dass der ebenso international renommierte Bach-Forscher Wolff besonderen Wert legt auf eine positive Sicht auf das, was Mozart mit den Bachs (vor allem Sebastian) verbinden könnte, dass er groß an Mozart nur das finden kann, was ihn auf dessen Schultern ruhen lässt, mag als subjektive Wahrheit oder als private Geschichtskonstruktion dieses Forschers respektiert werden, hat aber mit der komplexen Wirklichkeit, mit dessen Kenntnis auch Wolff hin und wieder kokettiert, wenig zu tun. Und so erlangt auch Mozart in dieser Darstellung seine eigentliche Höhe erst, indem er auf Bach antwortet und sich kompositorisch mit ihm auseinandersetzt. Dass nicht nur seine Frau Constanze, sondern auch der musikverständige Kaiser Joseph II. Fugen liebte, mag Mozart veranlasst haben, sich auf dem Gebiet der von ihm ungeliebten Tastenfuge zu versuchen, inspirierte ihn aber vor allem dazu, Bach’sche Klavier-Fugen(und nur solche kannte Mozart nachweislich) dahingehend zu bearbeiten, dass er sie (durchaus kompositionskritisch) für mehrere Stimmen auf verschiedenen Instrumenten auflöste. Dass er dies auch mit dreistimmigen Bach-Fugen tat und noch höchst sonderbare Streichtrio-Einleitungen hinzukomponierte, wird von Wolff erstaunlicherweise anerkannt oder unterstellt, obwohl die von ihm als unentbehrliche Grundlage gepriesene „monumentale kritische Edition des kompletten Œuvre Mozarts“ (S. 9), die Neue Mozart Ausgabe (NMA), diese Werke nicht kennt. Ob Mozarts zeitweise anschwellende Klavierfugen-Komposition ein Nachgeben gegenüber den Vorlieben Constanzes und des Kaisers gewesen war, kann dahingestellt bleiben, dass sie sich aber eingliedern lassen in eine die Wiener Jahre insgesamt prägende und nach 1787 noch „zunehmende Verwendung“ einer von Wolff so bezeichneten „polyphonen Kontrapunktik“ (S. 95) wird man bei einem Blick auf Mozarts Werkgeschichte vor Wien bezweifeln dürfen, denn diesen weißen Schimmel hat Mozart auch in Salzburg schon zu gegebenen Anlässen, v.a. in seiner Kirchenmusik, ausgiebig geritten, übrigens ohne Bachs vokal-instrumentale Partituren zu kennen. Um die Zäsur zwischen Salzburg und Wien tiefer markieren zu können, unterlaufen Wolff auch so kleine, aber charakteristische Nebenbemerkungen wie die, Mozart habe seine „erste große Oper“ (gemeint ist Idomeneo) in München komponiert, obwohl das doch wohl nur für die (bessere?) Hälfte zutrifft.
Durch die Verleihung des Titels eines Hofkammermusikers oder -kompositeurs Ende des Jahres 1778 mit festem Gehalt, aber wenig Pflichten (außer der, für die jährlichen Hofbälle Tanzmusiken zu schreiben) soll Mozarts Entwicklung zu einem anspruchsvollen, die Kompositionswissenschaft veredelnden Musiker erst richtig eingesetzt haben. Die Anerkennung durch den Kaiser, das In-den-Dienst-Treten für ihn soll Mozart dazu beflügelt haben, auch und ausschließlich für Kompositionen, die nie bei Hofe erklingen konnten, aber vom Kaiser bei dessen Besuchen im Burgtheater oder auf den Akademien gehört werden konnten, die größten verfeinerten und vor allem auf Bach aufsockelnden Techniken in Gebrauch zu nehmen.
Mozart im Dienste des Kaisers? Welchen Kaisers? Bekanntlich diente er ihrer zweien. Es ist seltsam, dass Wolff die den Titel des Buches gebende briefliche Mitteilung Mozarts an seinen Gönner Puchberg, er stünde nun „vor der Pforte meines Glückes“, nicht dahin platziert, wo sie hingehört, nämlich in das Jahr 1790, als Mozart nach dem Tod des Kaisers Joseph II sich Hoffnung darauf machte, der neue Kaiser Leopold II könnte die im Rahmen der josephinischen Reform der Hofmusik abgeschaffte Position eines Zweiten Hofkapellmeisters wieder besetzen und zwar mit ihm, und zwar vornehmlich für die Kirchenmusik und den musikalischen Unterricht der kaiserlichen Familie. Mozart hatte zu diesem Zweck ein Gesuch bei dem Sohn des neuen Kaisers, Erzherzog Franz, dessen Musikliebe Mozart bekannt war und der kurz nach Mozarts und Leopolds II. Tod selber Kaiser wurde, eingegeben und glaubte davon ausgehen zu können, dass diesem Wunsch stattgegeben würde, brauchte aber „vor der Pforte“ dieser auch mit weiteren Kompositions- und Unterrichtsaufträgen ausgestatteten Position, dringend noch ein paar hundert Gulden. Zwar konstruiert Wolff zwischen der 1778er Titelvergabe zum Hofkammermusikus (vergeben, „damit ein in dem Musik-Fache so seltenes Genie nicht genöthiget seye, in dem Auslande Verdienst und Brot zu suchen“, wie man Constanze Mozart eröffnete, als sie nach dem Tod ihres Mannes glaubte, auf diesem Titel Pensionsansprüche geltend machen zu können) keinen Kausalnexus zu neuartigen Kompositionstechniken Mozarts, aber er kommt immer wieder auf diese Tatsache als eine entscheidende Weichenstellung in Mozarts Verhalten als Künstler zurück. Daran ist zu zweifeln.
Das Schlechte, fast schon Gefährliche an dem Buch ist die Tatsache, dass es bestehende Legenden erneut autoritativ bekräftigt, besonders die wohl für immer mit allen Tatsachenhinweisen nicht entmystifzierbare Legende der großen Wirkung Bachs auf Mozart. Das Gute sind zum Teil großartige Einzelanalysen von Werken Mozarts, die Wolff aber nur unter den Auspizien einer durch die verbesserten Beziehungen zum Kaiserhaus enorm zunehmenden musikalischen Weisheit Mozarts sehen will. Hierbei spielen selbstredend die legendäre Trias der drei letzten Sinfonien von 1788, die Zauberflöte als „vera opera“ (ein Etikett das Mozart selber seiner aus einer Seria-Vorlage entstandenen Titus-Oper anheftete), aber auch die experimentelle Kammermusik und vor allem die Fragmente, in denen sich Wolff nun wirklich als Einziger richtig auskennt, eine große Rolle.
Mozarts stetig, von Kindesbeinen an sich verfeinernden, manchmal auch sich verrohenden Kompositionsweisen könnten unter Kaiser Franz II, oder in Paris, in London (jenseits Wiens, des Ortes, den der frisch angekommene Mozart noch für den besten Ort der Welt für sein Metier hielt, bevor die Enttäuschungen kamen) noch ganz andere Formen und Höhen erreicht haben – der Titel eines Wiener Hofkammermusikus war sicher nicht das entscheidende Movens der kompositorischen Höhenflüge, die durch die Infektion mit tödlichem Ausgang jäh beendet wurden. Das Rätsel der Lebenslinie Mozarts, wenn es eines ist, ließe sich wohl weniger durch administrative Äußerlichkeiten, sondern eher durch die innere Logik einer hypermusikalischen Künstlerexistenz im Widerstreit oder in Übereinstimmung mit seiner Lebenswelt erklären.
Peter Sühring
Berlin, 08.11.2013