Ralf Wehner: Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (MWV)

Wehner, Ralf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (MWV). Studienausgabe. – Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2009. – LXXXVIII; 595 S.: Notenbsp. (Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy ; XIII ; 1A)
ISBN 978-3-7651-0317-9 : € 128,00; im Rahmen der Subskr. gilt ein ermäßigter Preis (geb.)

Die etwas zu hoch gespannten Erwartungen des Rezensenten an dieses Werkverzeichnis konnten wohl nur enttäuscht werden. Die Hoffnung, dass an die Stelle der Konfusion in der Werküberlieferung Mendelssohns (die bisherigen Opuszahlen 1–72 stammen von Mendelssohn, die restlichen bis 121 wurden recht willkürlich posthum vergeben, ein Großteil der Kompositionen blieb ganz ohne Opuszahlen) mithilfe dieses Verzeichnisses eine dauerhafte und vor allem zitierfähige Ordnung treten könnte, muss aufgrund der Sachlage und wegen bestimmter Entscheidungen des Verfassers weiterhin unerfüllt bleiben. Die Erwartung bestand darin, dass man in Zukunft beispielsweise statt der von der Nachwelt verliehenen Opuszahl 110 für das frühe Werk aus dem Jahr 1824: Sextett in D-Dur für Violine, 2 Violen, Violoncello, Kontrabass und Klavier eine annähernd realistische Nummerierung vergeben würde. Nun hat das Werk die Sigle: Q 16. Q? Das ist die Werkgruppe „Kammermusikalische Werke mit Klavier“. Innerhalb dieser Gruppe von 34 Werken hat das Sextett die chronologisch richtige Stellung als das 16. Werk in dieser Gattung. Es gibt aber 26 Werkgruppen, die seltsamerweise nicht der Systematik der IX Serien der Leipziger Gesamtausgabe der Werke Mendelssohns folgen, deren Teil das Werkverzeichnis sein will, sondern einer neuen Systematik, die (zufällig?) den 26 Buchstaben von A–Z entspricht. Diese stark diversifizierte Gattungsunterscheidung führt zu einer anderen Art von Unübersichtlichkeit, die aber in vielen Werkverzeichnissen der letzten Zeit als ein erstrebenswertes Ziel angesehen wird. Seltsamerweise geht der Verfasser davon aus, dass das von ihm eingeführte Klassifizierungssystem „den raschen Zugriff auf das Gesamtwerk“ (S. XXXV) Mendelssohns von 750 Kompositionen aus einem Zeitraum von 28 Jahren ermögliche. Das Gegenteil ist der Fall. Ein rein chronologisches Verzeichnis mit angehängter Gattungszuordnung (am besten wohl nach der sinnvollen Aufteilung in der Werkausgabe nach nur neun Serien) und Stellenverweisen wäre viel praktischer gewesen. Die Betonung liegt bei diesem Verzeichnis also eindeutig auf einer hochdifferenziert elaborierten, etwas gekünstelten Gattungssystematik, wo doch aber vorrangig Ordnung in die Chronologie zu bringen gewesen wäre. Diese findet aber nur innerhalb der 26 Werkgruppen statt, was allerdings schon ein gewisser Vorteil ist. Sehr lobenswert ist die mutige Entscheidung Wehners, die Opuszahlen ab Nr. 73 gar nicht mehr als Referenzziffern zu erwähnen, denn sie gehören wirklich aus dem Verkehr gezogen (in einer angehängten Konkordanz kann man sie noch zum Ausgangspunkt von Recherchen im Verzeichnis machen).
Abgesehen von diesen grundlegenden Entscheidungen gibt es in einer Vielzahl von Einzelfragen und -fällen schwer verständliche Unstimmigkeiten innerhalb des Verzeichnisses. So lobenswert es ist, dass die bis heute eingebürgerte unsinnige Zählung der Sinfonien Mendelssohns fallen gelassen und die Sinfonie-Kantate Lobgesang ganz aus diesem Zusammenhang ausgeschieden wurde, so seltsam ist es doch, dass wiederum für die 1. und die bisherige 3. Sinfonie (Schottische) die alte Zählung beibehalten wird, während die Reformationssinfonie und die Italienische nun ganz unnummeriert bleiben, obwohl ihnen werkgeschichtlich die Nummern 2 und 3 zustehen. Hier ist eine gewisse Halbherzigkeit zu konstatieren, die sich nicht entscheiden konnte, neue, richtigere Nummerierungen vorzuschlagen oder festzulegen, sondern einen unklaren Zustand herbeiführen oder weiter in der Schwebe halten wollte. Wer, wenn nicht die Bearbeiter der historisch-kritischen Werkausgabe und des an sie angelehnten Werkverzeichnisses könnten hier mit Autorität für die Zukunft verbindliche Festlegungen treffen? Ähnliches spielt sich auf dem Gebiet der Konzerte und der Kammermusiken ab, wo es der Verfasser des Werkverzeichnisses nicht wagt, von Mendelssohn selbst vergebene Nummern zugunsten der inzwischen sichtbar gewordenen Realität der Gesamtüberlieferung anzupassen, obwohl Mendelssohn doch selbst der Meinung war, dass bei einem „vollständigen Verzeichniß meiner Compositionen“ „bedenkliche Nachlässigkeiten zum Vorschein kommen“ würden.
Ein solches von Mendelssohn gewünschtes „Vollständiges Verzeichnis“ das die bedenklichen Nachlässigkeiten hätte beseitigen können, liegt nun zwar vor, leider aber ohne sie gänzlich zu beseitigen. Um der selbstverschuldeten Unübersichtlichkeit entgegenzuwirken, sind diesem Verzeichnis dankenswerter Weise jede Menge Vorbemerkungen zu den einzelnen Werkgruppen sowie Literaturangaben, dann eine Übersicht über die folgenden ausführlichen Werkbeschreibungen in Stichworten beigegeben. In die Werkbeschreibungen selbst ist eine große Zahl neu erforschter oder akribisch gesammelter Informationen eingeflossen, so dass der Benutzer sich über die Entstehung und die Quellenlage ein von tendenziösen Interpretationen freies Bild machen kann. Die auf 88 Seiten zweisprachig gedruckten Einleitungen und Benutzungshinweise geben ein anschauliches Bild der gesamten Überlieferungs- und Katalogisierungsgeschichte der Werke Mendelssohns. Konsequent sind allen Stücken Notenincipits beigegeben. Zahlreiche Register erschließen das Werkverzeichnis nach Titeln und Textanfängen der Vokalwerke, Titeln der Instrumentalwerke, der Sammelquellen (Handschriften und Drucke), der erwähnten Werke fremder Autoren, der Fundorte und der genannten Personen und Institutionen. Das MWV stellt sicher einen großen Fortschritt dar, wenn es auch das Chaos nicht ein- für allemal in Ordnung verwandeln konnte.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 347f.

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