Arche Musik Kalender 2014. Inspiration [Peter Sühring]

Arche Musik Kalender 2014. Inspiration / Div. Redakteurinnen; Gestaltung: Max Bartholl. – Zürich: Arche Kalender-Verlag, 2013. – 53 Bl.: 53 Abb.
ISBN 3978-3-0347-8014-8 : € 22,00

Mit einer ausgesprochen begeisterten oder vergeistigten, beseelten Geste versucht Carlo Maria Giulini gleich auf dem Cover-Foto das Orchester zu inspirieren. In Zeiten, in denen selbst Immobilienagenturen „inspiration group“ heißen und Begriffe wie „Kreativwirtschaft“ kursieren, scheint es fast altmodisch, über musikalische Inspiration als Bestandteil eines künstlerischen Prozesses zu sprechen. Trotzdem wird es bis heute getan und haben Künstler schon zu allen Zeiten darüber nachgedacht. Eine notgedrungen kleine, 53 Beispiele präsentierende Serie von allerdings ausschließlich neuzeitlichen Antworten auf die Frage, was Inspiration in der Musik sei, bietet der Arche Musikkalender für das kommende Jahr. In bewährter Manier wird pro Woche ein(e) durch ihre dezidierten Ansichten hervorragende(r) Musiker(in), entweder durch ein Selbstzitat oder durch eine Beschreibung von Zeitgenossen vorgestellt. Musikalische Inspiration ist angesiedelt in einem Zwitterreich aus Wachen und Träumen, aus Rausch und Nüchternheit. Und deshalb spielt in den meisten Beispielen das Verhältnis von bewusster Arbeit (handwerklichem Können) und dem unkontrollierbaren und für Musik unentbehrlichen Spiel der Phantasie und der Eingebung die zentrale Rolle. Ganz egal wovon inspiriert, ob von Schreibmaschinengeklapper (wie Rolf Liebermann) oder von Volksliedern (wie Max Bruch), ob – wie viele andere ‑ von Stimmungen in der Natur, von Gedichten, Gerüchen, von Stille oder Lärm, ob aus der Selbstversenkung heraus, inneren Stimmen folgend oder aus einem Akt der Befreiung vom Selbst (wie bei Hans Werner Henze), immer entscheidet das Verhältnis des hervorgerufenen Einfalls zur geistigen Arbeit vor, während oder nach ihm über dessen Schicksal, darüber, ob er künstlerisch geformte Gestalt annimmt, die schön, geglückt, überzeugend ist und wieder inspirierend wirken kann auf den Hörer. Manchmal werden tatsächlich Hörer inspiriert: einen Schorndorfer Bäckermeister inspirierten die Koloraturen von Erna Sack zu einer nach ihr benannten Torte.
Viele Musiker misstrauen dem aus dem Zustand der Begeisterung oder Vergeistigung geborenen Einfall und nutzen ihn lediglich als Gegenstand intellektueller Bearbeitung. Chopin aber kehrte, wenn man George Sand glauben darf, nach zermürbenden Umwandlungsversuchen stets wieder zum ursprünglichen Einfall zurück. Andere hingegen können gar keinen Kompositionsauftrag annehmen, weil sie nur völlig anlass-und zweckungebunden, in einem „heiligen“ Zustand, komponieren können (wie Galina Ustwolskaja), manchem gelingt es gar nicht, das innerlich Gehörte aufzuschreiben, weil vieles schon auf dem Weg von der ursprünglichen Klangvorstellung zum Notat wieder verloren geht oder es sich gar nicht notieren lässt. Mozart konnte zwar nicht mal ein kleines, bei ihm von einem Uhrmacher in Auftrag gegebenes Adagio erzwingen, um für seine Constanze ein paar Dukaten zu verdienen, aber wiederum keine ganze Oper schreiben, ohne einen Auftrag oder ohne ein inspirierendes Libretto.
Alle widrigen oder glücklichen Um- und Missstände, die mit dem künstlerischen Produktions- und Reproduktionsprozess zusammenhängen, kommen gedrängt zur Sprache. Mendelssohn, der hier nicht vorkommt, verachtete den von seinen Kollegen, deren Musik er widerwillig zu dirigieren hatte, strapazierten „göttlichen Funken“, der alles verderbe, während Wagner so lange seine Noten wälzte bis alles „im Superlativ“ gesagt war, aber ganz ohne ein seltsames Zuströmen von Ideen wird es wohl beim Komponieren und Musizieren nicht abgehen. Das wusste man übrigens schon in Antike und Mittelalter, wo man im Wirken der Götter und Musen, wie auch des einen Gottes und dessen Boten den Ursprung dieser schöpferischen Zustände beim Menschen erkannt zu haben glaubte. Hier gab es nicht nur Inspiration im Allgemeinen, sondern ganz gezielte Einflüsterungen im Besonderen. Am besten wusste es aber bereits Phemios, ein antiker Sänger am Hofe des Odysseus auf Ithaka: um sein Leben flehend spricht er die Einsicht aus: Götter begabten mich mit der Fähigkeit zu singen, aber ich habe mich selbst gelehrt und kann für jede Gelegenheit das passende singen. Das ersetzt ganze Berge von Inspirationstheorien; nicht aber die in diesem Kalender zusammengetragenen Beispiele späterer Versuche, das Rätsel zu lösen. Manchmal zuckt man kurz zusammen, wenn man in den von Elisabeth Raabe geschriebenen Bildlegenden etwas liest wie, Bruch hätten seine zwei Violinkonzerte berühmt gemacht. Nun hat er aber drei solcher Konzerte geschrieben und berühmt gemacht hat ihn eben nur deren erstes. Aber das sind Kleinigkeiten. Auch dass sich notgedrungen die Kurz-Biografien von Melanie Unseld manch fragwürdiger musikgeschichtlicher Etikettierung bedienen müssen. Selbst der, den die mitunter auftretende Unruhe in Max Bartholls Arrangements der allesamt gut ausgesuchten Bilder stören sollte, hat jeweils eine Woche Zeit, sich mit ihnen anzufreunden und über sie zu meditieren. Lassen Sie sich inspirieren!

Peter Sühring
Berlin, 30.09.2013

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Geschenk, Rezension abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.